Die Einheit von Körper und Geist als poetische Pilgerfahrt

Neuauflage von „Songs of the Wanderers” des Cloud Gate Dance Theatre of Taiwan

Wie in „Songs of the Wanderers” Tonnen von Reis zum Protagonisten werden und trotzdem das Gefühl angenehmer Leere entsteht

Arthaus Musik, 22/05/2013

Langsam folgt die Kamera dem geräuschvoll rieselnden Wasser nach unten. Erst auf dem zweiten Blick erkennt man, dass es Reis ist, der hier auf das kahlrasierte Haupt eines meditierenden Mönches prasselt. Um Wang Rong-Yu alias „The Monk“ bildet sich ein stetig wachsender, goldgelbglänzender Reisberg. Eine Line aus gelblich strahlenden Reishügeln schlängelt sich wie ein Fluss quer über die Bühne. Aus dem Bühnendunkel treten die Tänzerinnen und Tänzer des Cloud Gate Theatre of Taiwan heraus. In erdfarbenen Lumpen gehüllt und kriegerisch geschminkt, bewegt sich das Ensemble wie in einer Zeremonie zu gregorianischen Gesängen bis zur Getreidegrenze vor und legt die mit Glöckchen versehenen Pilgerstäbe ab. Ein Tänzer (Wu Chun-Hsien) ebnet mit einem Rechen den Reis auf der Bühne, der zur endlos scheinenden Wüste oder zur Spirale geformt wird. Die meditativen Bilder in „Songs of the Wanderers“ erzeugen eine starke Sogwirkung: Sie sind symbolisch aufgeladenen und hinterlassen ein Gefühl von Ausgeglichenheit und Leere. Die Choreografie zeichnet eine moderne Tanzsprache aus, erinnert aufgrund der grotesken, langsamen Bewegungen an den Butoh bzw. dank der tranceartigen Drehungen an Derwisch-Tänze. Die Soli und Ensembleszenen sprühen vor archaischer Ekstase, Selbstkasteiung und beschwören eine absolute Hingabe an Geist und Tanz herauf.

„Songs of the Wanderer“ ist auch dahingehend ein Kunstwerk, da es seine Inspirationsquellen, unterschiedliche religiöse und spirituelle Praktiken, harmonisch zu vereinen mag. Der künstlerische Leiter und Choreograf Lin Hwai-min ließ sich von Hermann Hesses „Siddharta“, von den asketischen Ritualen der hinduistischen Sadhus sowie japanischen Zen-Zeremonien anregen. Eine Reise durch Nordindien führte den Choreografen zu dem Bodhibaum, unter dem einst Buddha seine Erleuchtung gefunden haben soll.

Geheimnis dieser faszinierenden Performance sei das spezielle Training der Tänzer, so der ehemalige Graham-Schüler Lin Hwai-min, der 1973 die Kompanie in Taiwan gründete. Neben klassischem Ballett, Improvisation und modernen Tanztechniken stehen auch Tai chi, Meditation sowie die traditionelle Pekingoper auf dem Trainingsplan. Die Verbindung von Körper und Geist ist typisch für östliche Denkweisen. In Anlehnung dessen bezieht sich die Kompanie auf den ältesten Tanz Chinas. Der Legende nach soll jener Tanz über 5000 Jahre alt sein, so alt, dass niemand mehr die Schritte und Tanzabfolgen kennen kann. Das chinesische Schriftzeichen für Cloud Gate, Wolkentor, ist ein bedeutungsträchtiges Kompositum. Das Zeichen Tor ähnelt dem Zeichen für Körper, wird mit physisch, konkret, stark und ehrwürdig übersetzt. Die Wolke steht für den Tanz, die dahinziehenden Bewegungen der Wolken versinnbildlichen die des Körpers.

1994 wurde „Songs of the Wanderers“ am Nationaltheater von Taipeh uraufgeführt und tourte anschließend fünf Jahre durch die Welt. Ein Gastspiel am Sadler´s Wells Theatre in London 1999 wurde für die vorliegende Aufzeichnung mitgeschnitten. Eine knapp 20minütige Dokumentation über das Cloud Gate Dance Theatre of Taiwan, das Tradition und Moderne geschickt zu vereinen weiß, ist das Special-Feature der DVD.

Arthaus Musik hat die DVD 2013 neu aufgelegt; „Songs of the Wanderers“ ist für 32,75 Euro im Handel erhältlich.

 

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