Dreimal Ravel
Choreographien von Balanchine, Robbins und Cherkaoui/Jalet an der Pariser Oper
„Boléro“ von Ravel von Sidi Larbi Cherkaoui, Damien Jalet und Abramovic in Paris
Sie kommen in schwarzen Mänteln, vom linken aufs rechte Bein stampfend, langsam aus der Dunkelheit, eine Reihe erst kaum wahrnehmbarer Figuren wie aus Zeiten des Fehmegerichts. Erst dann geht das Licht im Orchester an, beginnt der unaufhaltsame Rhythmus des „Boléro“ von Ravel in der atemberaubenden neuen Choreografie von Sidi Larbi Cherkaoui und Damien Jalet. Aus der langsam anschwellenden Variation des Immergleichen in der Musik haben sie ein Stück Mythos gemacht, das in abstrakten Formen vom ewigen Kreislauf des Lebens erzählt.
Die Tänzer des Ballet de l’Opéra de Paris laufen schon bald in zwei Kreisen, an deren Berührungspunkt immer wieder einige in den jeweils anderen übergehen, so dass eine liegende Acht daraus entsteht, das Symbol der Ewigkeit. Erst drehen sich nur zwei Hände im Licht, dann werfen die Tänzer nach und nach ihre schwarzen Mäntel ab und werden in ihren hautfarbenen Trikots ganz Mensch. Unter den durchscheinenden Schleiern, die sie später im Zyklus auch noch abwerfen, zeichnet sich aber in wenigen Strichen das Knochengerüst ab, so dass dieser Lebenskreis auch schon an den Totentanz denken lässt.
Die Performance-Künstlerin Marina Abramovic, Kostümbildner Riccardo Tisci und Urs Schönebaum als Leuchter erweitern das Bühnenbild im Übrigen durch eine Spiegelwand ins Unendliche. Auf dem Boden und eben im Spiegel geben Lichtkreise den Fokus für die Tänzer, bilden wie sie viele kleine oder große Kreise oder lösen sich ganz und gar auf in eine Art Bildschirmgrieseln, sozusagen ein elektrisches Spannungsfeld noch ohne Ordnung. Dann wabert auch schon mal Nebel über den Bühnenboden, so dass die Tänzer wie im Wasser zu schweben scheinen.
Abramovic, die in ihren Performances auch ihren eigenen Körper bis zur Schmerzgrenze austestete, sieht darin eine Gemeinsamkeit mit den klassischen Tänzern. Und die sind, so berichteten Cherkaoui und Jalet, bei den Proben so lange in Drehbewegungen trainiert worden, dass ihnen vor Schwindel schlecht wurde. Denn die Choreografie ist eine einzige anhaltende Kreiselei, die an Cherkaouis Erfahrungen mit den tanzenden Derwischen erinnert, und in solche Trance geraten nicht nur die Tänzer, sondern auch die Zuschauer.
Mit zurückgelegtem Kopf drehen sich die elf Tänzer unaufhörlich um sich selbst und umeinander. Sie bilden manchmal kleine Gruppen, in Paaren unterläuft einer durch Bodenrollen das schwingende Bein des anderen, als ergänzten sie sich so im Raum. Oder man lässt den Partner über den Rücken rollen. Da die Paarungen in allen homo- wie heterosexuellen Möglichkeiten auftreten, lässt das durchaus an die von Cherkaoui evozierte These Platons von den Menschen als geteilten Monaden denken, die ihre ursprünglichen Partner wiedersuchen.
Doch alles Paaren wird immer wieder im Strudel mitgerissen, einzelne Tänzer werden herausgeschleudert und dann wieder aufgesogen. Manche schrauben sich solistisch aus dem Boden, Hauptsache Drehen - es ist in allen.
In der frenetischen Steigerung am Ende der Musik schleudern sich die Paare in die Umarmung, drehen den Partner über den Rücken oder zwischen den Beinen durch, kreiseln ihn umklammert in der Luft, um ihn zuletzt wegzuschleudern. Die Zentrifugalkraft siegt, das einst von Béjart mit einem Solisten besetzte Zentrum des Boléro bleibt leer. Eine einzelne Tänzerin zieht zuletzt wie Madame la Mort den schwarzen Mantel wieder zu. Blackout.
Cherkaoui, Jalet und den Partnern ist ein Jahrhundert- „Boléro“ gelungen wie Béjart im 20. Ohne allen zeitgeistigen Schnickschnack führen sie den mystisch-energetischen Gehalt des Werks vor Augen. Dass sie die auseinandersprengende Kraft in all der unablässig rotierenden, nur scheinbar zielführenden Bewegtheit betonen, wo Béjart konzentrierte, markiert trotzdem klar das 21. Jahrhundert. Und doch bleibt es dasselbe Kreisen, soghaft in den Abgrund führend und wieder neu ausspeiend.
Bravo aber auch den Tänzern, die sich minutiös wie Turbinen in diesen Taumel begeben haben und gegen Ende noch zu diesen zwischenmenschlichen Umarmungen und Hebungen fähig sind. Gewissenhaft schlug dazu Vello Pahn dem Opernorchester den Takt.
Klug hatte aber auch die scheidende Ballettdirektorin Brigitte Lefèvre diesen Coup in ein Programm historischer Marksteine eingebaut: In Béjarts Version des „Feuervogels“ glänzte Mathias Heymann als flügelschlagender roter Bote der Revolution, die er am Ende, schwebend auf dem Rücken eines neuen Phönix, Hand an Hand in vier Strahlenreihen nun ebenfalls rot gekleideter Tänzer weiterreicht wie ein Kraftwerk elektrischer Ströme.
Den „Nachmittag eines Fauns“ gab es gleich zweimal hintereinander. Erst durfte Benjamin Pech in den eckig-planen Gesten der Nijinsky-Fassung der Nymphe Eve Grinsztajn auflauern und mit lüsternem Lachen seine Hände vorm Gemächt öffnen. Pech bringt das freimütig Animalische der Figur suggestiv zum Ausdruck.
Dann machte Stéphane Bullion in der Fassung von Jerome Robbins seine selbstverliebten Exerzitien vor dem imaginären Ballettsaalspiegel, von Emile Cozette auf scharfer Spitze zunächst gestört in seiner Eitelkeit. Dann aber passt sie sich in seine Figuren ein, und wenn der Blick doch mal zu lange Aug’ in Aug‘ verweilt, kann man sich ja wieder in die Pose retten. Während sie im Rückwärtslauf wieder entschwindet, dreht sich er wie der Faun auf den Bauch – alles nur ein feuchter Traum? Bullion zeigt sehr schön unbekümmert das heute nicht nur im Ballettsaal typische jugendliche Selbstgefallen.
In Paris wurde der Mehrteiler zum überzeugenden Konzeptalbum.
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