Vom Warten auf die Welle des Tanzes

Christian Spucks „Das Fräulein von S.“ in Stuttgart

Stuttgart, 14/02/2012

Das Warten auf die Welle bestimmt das Leben von Surfern. Das Brett unterm Arm, dann draufliegend paddeln sie raus aufs Meer. Sobald die Welle naht, warten sie den richtigen Moment ab, um aufs Brett zu springen und sich, herrlich, vom Wellenkamm tragen zu lassen. Das Bild davon sieht klasse aus. Präsent, energetisiert, strahlend. Schön oben bleiben, sich bloß nicht von den Kräften fortreißen lassen in die Tiefen des Meeres, lautet die Devise.

Christian Spuck ist der Surfer unter Stuttgarts Choreografen, der Sunny Boy mit der Lust auf die Dynamik der Oberfläche des Ozeans und dem heiteren Zwinkern im Auge, doch nicht alles so ernst zu nehmen, sondern leichter, mit Freude am Spielen und Ertüfteln jenes Konzepts, mit dem der Ritt am besten gelingen könnte. Und damit der besonders gut aussieht, sind viele langjährige Kollegen in die Vorbereitungen auf den Wellengang eingebunden, einschließlich Marcia Haydée, die 1996 ihren letzten Tänzervertrag als Direktorin des Stuttgarter Balletts dem jungen Christian Spuck ausgehändigt hatte. Sie ist die Hauptdarstellerin im neuen Wurf von Christian Spuck: reduziert in Gestik und Bewegung, nur mit ihrer Präsenz und ihrer Mimik sprechend, aussagestark.

In wenigen Monaten wird Christian Spuck der neue Direktor des Zürcher Balletts sein, wo er die Erinnerung an manches Erbe von Heinz Spoerli bewahren und ein eigenes Repertoire aufbauen wird. Auf was sich das Schweizer Publikum freuen kann, war im vorerst letzten Abendfüller für jene Kompanie zu erleben, der er seit siebzehn Jahre angehört. „Das Fräulein von S.“ nach der 1820 erstmals erschienenen Novelle von E.T.A. Hoffmann glich einem perfekt vorbereiteten und aufmerksam und routiniert durchgezogenen Gang übers Wasser, an dem nur schade war, dass man selbst zu wenig das Wasser spürte. Der Ozean war einem doch zu fern, auch wenn einen die Sehnsucht zu ihm trieb.

En Detail und auf den Tanz übertragen: Die großartige Inszenierung verwöhnte das Publikum musikalisch und liebkoste seine Zuschauer wie schon bei „Lulu“, „Der Sandmann“ oder „Leonce und Lena“ mit einem ungemein raffinierten und stilvollen Bühnen- und Kostümbild von Emma Ryott, an dem man sich angesichts großer Klasse nicht satt sehen konnte. Elegante Schnitte, feine Stoffe und extravagante Frisuren bei den Damen in gekonnter Anlehnung an jene Mode, wie sie im 17. Jahrhundert in der feinen Pariser Gesellschaft üblich war, umschmeichelten das Auge ebenso wie ein differenziert ausgearbeitetes Lichtkonzept von Reinhard Traub. Musiker des Staatsorchesters unter Leitung von James Tuggle strichen, wie schon in früheren Inszenierungen Spucks, auf der Bühne Kompositionen von Robert Schumann. Aus dem Orchestergraben ertönten Werke von Philipp Glass und Michael Torke und Martin Donner lieferte zudem eine zeitgenössische Soundbastelei inklusive des Geräuschs trappelnder Pferdekutschen ab, die Freude machte.

Leichtfüßig formulierte schließlich die Kompanie Spucks jahrelang ausgearbeitete Bewegung- und Raumsprache: Die Umarmung des Körpers mittels Überkreuzungen von Armen und Händen mal an den Knien, den Schultern, am Kopf, verbunden mit hohen Schwüngen der Arme und Beine und einem Port de Bras oft in der dritten und fünften Position, die sein Vorbild William Forsythe bis in einzelne Werke wie „The Vertiginoius Thrill of Exactitude“ oder „Impressing The Czar" hinein nie verhehlten. Im schicken Programmheft gab Spuck Dramaturg Michael Küster ausführlich Auskunft über sein Konzept, die kompliziert erzählte Novelle Hoffmanns für die Tanzbühne zu gewinnen. Er wolle Teilaspekte herausgreifen und eine Geschichte erzählen, die in der Art ihrer verrätselten Darstellung das literarische Original auf neue und ungewohnte Weise erleben lassen. Er wolle ein Handlungsballett auf eine andere Weise kreieren und dabei theatralisch, aber mit Blick auf den Tanz viel abstrakter. Eindeutige Bedeutungszuweisungen sollen vermieden werden, stattdessen faszinierten ihn gebrochene Geschichten. Hier fängt das Problem mit Spucks Inszenierung an.

Man versteht was er theoretisch will. Doch praktisch lahmte das Interesse im ersten Teil gleich zehn, fünfzehn Minuten später, nachdem man begriffen hatte, wie der Hase läuft. Spuck ließ den französischen Schauspielerstar, die kleinwüchsige Mireille Mossé fast die gesamte Handlung der Hoffmannschen Novelle erzählen. Sprach sie, stand das Ensemble still. Hörte sie auf, sah man fein ausgearbeitete Formationen der Gruppe, das komplexe Figurentableau wurde jeweils namentlich identifiziert. So ging das lange. Eingefrorenes Bild, Texte, dann Massenbewegung in Abstraktion, dann wieder Stillstand, Text. Hatte nicht der große Noverre in seinen berühmten Briefen dafür gekämpft, dem ballettösen Tanz ein eigenes Standing zu geben, indem er wie Gemälde in einer Abfolge und in der Wirkungsweise wie ein Drama neu funktionieren sollte? Dass er gerade nicht das Wort braucht? Von Verrätselung war daher im ersten Teil keine Spur. Noch schlimmer: Die vielen Worte, wenn auch exzellent dargeboten, nahmen dem hinter ihnen ablaufenden Tanz viel von seiner eigenen Wirkungskraft, dämpften und vereindeutigten ihn bis fast zur Überdrüssigkeit.

Erleichtert genoss man dann den zweiten Teil. Hier endlich zeigte Spuck seine Fähigkeit zur Melancholie, zum Berühren. Katja Wünsche und William Moore, das Traumpaar Jason Reilly und Alicia Amatriain sowie Marijn Rademaker durften fast in Slow Motion ein surreales Bewegungsbild kreieren, das in sich verschlossen und tief ins Herz führend war. Im dritten Teil zeigte sich dann, trotz derselben Machart wie der erste Teil, Spucks gutes Gefühl wie Timing, das er im ersten Teil arg strapaziert hatte. Zu sehen und zu hören war von den Verhandlungen und der Suche nach dem Täter, der all die jungen Kavaliere beraubt und ermordet hatte, wieder alles in mächtig elegante Bilder gepackt, bis sich herausstellte, dass die Erzählerin selbst die Anzuklagende war. Hätte er bloß mit dem zweiten Teil sein Stück begonnen, denkt man, das Wasser des Ozeans berührt, einen seine dunkle Tiefe ahnen lassen, wäre der Abend spannender gewesen.

 

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