Tänzer schlafen zu wenig

ausführlicher Bericht von Terry Pfeiffer zum Tanzmedizinkongress 2012

Berlin, 01/06/2012

Von Terry Pfeiffer

Am Freitag, den 1.Juni fuhr ich frühmorgens nach Berlin, um auf dem 12. Kongress für Tanzmedizin in Berlin dabei zu sein. Das Motto des diesjährigen Kongresses hieß „Faszi/e/nation Tanz – Bewegte Vernetzung“ und behandelte sowohl die Faszien im Körper als auch faszienartige Netzwerke, die wir miteinander aufbauen und nutzen können. Der Kongress fand in den Räumen des Hochschulübergreifenden Zentrum für Tanz in den Uferstudios in Berlin-Wedding statt. Es kamen viele internationale Gäste; der Kongress war gut besucht.

Die Faszien im Körper haben in der Vergangenheit eine eher untergeordnete, wenn überhaupt eine Rolle bei Therapeuten, Ärzten und auch bei Tänzern selbst gespielt. Sicherlich, ich wusste schon, dass es sie gibt, aber ich dachte, sie wären lediglich dazu da, dass die Muskelfasern nicht auseinanderfallen. Beim Kochen von Tierfleisch sind mir die silbrig, weißen Stränge und Häute oft aufgefallen, die an manchen Stellen sehr fest und fast knöcherig schienen. Heute kommt man immer mehr darauf, dass diese unscheinbaren Gewebsstrukturen doch weitaus mehr Aufgaben haben, als man jemals dachte.

Wir haben bei einem Vortrag von Dr. Robert Schleip einen faszinierenden Film gesehen, der Faszien zeigte, wie sie gleiten und sich ständig verändern, während man sich bewegt. Tatsächlich sind Faszien in der Lage, sich neu zu formen und sich an die jeweiligen Belastungen anzupassen. Faszien verändern sich langsamer als Muskeln. Aber die Faszien halten − im Vergleich zum Muskeltonus − ihre Kraft über einen längeren Zeitraum. Obwohl Faszien so lange Zeit brauchen, bis sie sich an Muskeln angepasst haben, scheinen sie danach selbst die Form zu bestimmen. Vielleicht erklärt dies, warum man physische Gewohnheiten schwer ändern kann. Die Faszien unterstützen Muskeln und Gelenke, ihre Stellung zu halten. Mit der Zeit können sogar Mineralisierungen in den Faszien stattfinden, die dann sehr hart werden können und so Veränderungen noch zusätzlich erschweren.

Am Nachmittag stand uns dann eine Podiumsdiskussion über Rehabilitation im Tanz bevor. So erfuhren wir, dass es in Deutschland mehr professionelle Tänzer und Tänzerinnen gibt als professionelle Fußballspieler. Wir sind alle gewohnt zu sehen und zu lesen, dass Fußballspieler nach einer Verletzung sofort in einer Spezialklinik gehen und auch sehr ausführliche Rehabilitationen durch Spezialisten erhalten, die es ihnen ermöglichen, so schnell wie möglich wieder voll einsatzfähig zu werden. So etwas gibt es für verletzte TänzerInnen kaum. Rehabilitationszentren gibt es, aber die Krankenkassen und auch die diversen Versicherungen zahlen sehr ungern und oft verweigern sie ganz die Bezahlung von karriereerhaltenden Maßnahmen. Sicherlich ist das auch wegen der Kosten, wie das auch in dem Gespräch erläutert wurde (um ein Balletttänzer wieder voll einsatzfähig zu machen, braucht es mehr und vor allem spezialisierte Physiotherapie als für andere Athleten).

Am Samstag um 9:30 Uhr ging es los mit einem Vortragsblock zu „Netzwerk Körper“. Bei dem ersten Vortrag haben wir unter anderem einen Kurzfilm über einen Tänzer, der Bühne einen Kreuzbandriss erlitt, gesehen. Da ging ein Entsetzen durch den Saal, und nicht wenige von uns fühlten eine leichte bis mittlere Nausea bei diesem Anblick. In der Tat ist ein Kreuzbandriss nichts Seltenes, denn laut Aussage von Dr. Andreas Weiler erhält pro Jahr einer von 1000 Leuten eine Kreuzband-OP Wir haben auch erfahren, dass, wenn die Operation gut verläuft und auf ausreichend und tanzspezifische Rehabilitation geachtet wird, die Erfolgsaussichten für Tänzer bei 100% liegen, um in den Beruf zurückzukehren.

Peter Lewton-Brain hielt eine Rede über „Visceral Osteopathy“ und Vorstellungsverbesserungen im Tanz. Denn die „Mitte“ des Körpers, so erfuhren wird, wird von vielen Choreografen und Ballettdirektoren als „wesentlich“ angesehen. Auch kleinste Bewegungen, so genannte „Vibrationen“ haben hier große Auswirkungen auf andere Körperregionen. Wenn ein Tänzer in dieser Region „steif“ und „unbeweglich“ ist, kann das Auswirkungen auf den ganzen Tänzer, seine Ausdrucks- und Bewegungsfähigkeit haben. Durch Osteopathie kann man Versteifungen, Verklebungen und sonstige Verhinderungen in dieser Region auch gut beheben. Markus Martin hat über den Beckenboden gesprochen. Das hat sehr gut gepasst zu dem nächsten Vortrag, über Inkontinenz im Tanz, der gehalten wurde von Anja Barz. Das Wesentliche, das ich von diesem Vortrag behalten habe, ist, dass man eigentlich mehr Flexibilität in den Beckenboden braucht, um nicht nur tänzerische Aufgaben optimal zu bewältigen, sondern auch um Inkontinenz vorzubeugen. Diese scheint häufiger im Tanz − auch bei jungen Leuten − vorzukommen.

Nach der Kaffeepause gingen wir in die von uns im Vorfeld gewählten Workshops. Ich hatte mich für den Workshop „fasziale Mobilität im Tanz“ bei Javier Torres und Liane Simmel entschieden, da ich immer sehr gute Erfahrungen gemacht habe und auch die Themen für meine Arbeit nützlich schienen. Javier hatte ein kurzes Training vorbereitet. Zwischen den Übungen hat Liane darüber gesprochen, was wir gerade taten und unsere Aufmerksam auf bestimmte Einzelheiten gelenkt. So war das sehr übersichtlich und man könnte wirklich erfahren, was im eigenen Körper, wie geschieht. Wir haben sehr „leichte“ Übungen gemacht, oft mit kleinen „wippenden“ und „federnden“ Bewegungen gespickt, um die Faszien zu mobilisieren. In die Mitte des Raumes ging es nach den Übungen an der „Stange“. Aufgabe war es zum Beispiel vor einer Pirouette erst langsam ins plié zu gehen, dann ganz kurz vor dem relevé tiefer ins plié zu gehen und zurückzufedern. Auch vor den Sprüngen haben wir ganz kleine, wippende Bewegungen gemacht, um die „Federn“ vorzubereiten. Die Faszien müssen trainiert werden, um die richtige Ausrichtung zu besitzen. Hilfreich kann es sein, als Dozent im Unterricht zuerst das „Gefühl“ für eine Bewegung zu unterrichten, die Schüler ausprobieren zu lassen, um dann später das Erfahrene in den Einzelheiten weiter zu vertiefen und Kraft zu trainieren. Möglich wäre auch, zwischen einer Vertiefung der Impulse und Krafttraining zu wechseln.

Nach dem Workshop war eine Stunde erholsame Mittagspause, gefolgt von Vorträgen zum Thema, „Netzwerk Praxis“. Wir haben zuerst von Dr. Elisabeth Exner-Grave von einer jungen Tänzerin mit einer therapieresistenten Fußverletzung erfahren. Frau Exner-Grave berichtete von deren Behandlung und Wiederherstellung der Flexibilität. Wir haben erfahren, dass es eine Therapieform gibt, die den Knochenheilungsprozess unterstützen kann. Diese wird „LIPUS“ genannt, und bedeutet „low intensity pulsed ultrasound“ – oder Niederfrequenz pulsierender Ultraschall“, den man ca. 20 Min. pro Tag anwenden kann.

Dr. Stefanie Hofmann hat über „belastungsabhängige Fußschmerzen“ am Beispiel einer Tänzerin referiert, gefolgt von dem Vortrag von Younes Laraki über Netzwerke zur Therapie für TänzerInnen. Nach der Kaffeepause gab es eine „Bewegte Zeit“ – eine Reihe von Vorträgen, Workshops oder Diskussionen, zwischen die man sich „frei“ bewegen konnte. Ich wollte zuerst zu Frey Faust und sein „optimales Körpertraining unter Berücksichtigung der Funktion von Faszien“ gehen. Dort sahen wir, wie weitläufig und vielfältig die Arbeit mit und für die Faszien ist. Die Forschung auf diesem Gebiet ist ziemlich neu. Viele verschiedene Therapien und Trainingsmöglichkeiten haben etwas „Experimentelles“ an sich, als ob keiner wirklich wüsste, was er macht und es einfach ausprobiert. Das ist sehr spannend, doch manchmal etwas verwirrend und frustrierend zugleich. (Der eine Vortragende sagt „A“, der zweite sagt „B“; aber das ist in der Kunst und in der Medizin eigentlich auch nichts Neues) Dr. Boni Rietveld’s Vortrag über „Recycling of Dance Floor Scraps for the Sake of Dancers‘ Health“ hat gezeigt, was man alles aus zahlreichen Resten des Tanzteppichs herstellten kann. Tanzteppiche sind sehr elastisch und biegsam und können in verschiedene Stärken leicht zugeschnitten werden. Sie eignen sich daher gut für orthopädische Einlagen.

Nach der Vorstellung des Staatsballetts am Vorabend, ging es am Sonntag früh um 9:30 Uhr weiter mit dem „Fachgruppen Spezial“. Man musste sich im Vorfeld entscheiden, ob man bei der Fachgruppe „Ärzte“, „Therapeuten“, „Dance Science“, „Tänzer“ oder „Pädagogen“ mitmachen wollte. Da ich beruflich als Ballettlehrerin arbeite, habe ich mich bei den Pädagogen angemeldet. Als Erstes hielt Javier Torres einen Vortrag über die Wichtigkeit der Mobilität von Brustbein und Brustwirbelsäule. Anhand von mehreren Beispielen und einem anwesenden Skelett hat man viel über diese Körperregion und seine Möglichkeiten gelernt. Wir haben auch über die Notwendigkeit von positiver Kritik gesprochen, da negative Kritik („mach nicht!“) die Sensibilität von Brustbein und Brustwirbelsäule auch negativ beeinflussen und so die Mobilität und Ausdrucksfähigkeit des Tänzers behindern kann. Ah, wie alles doch miteinander vernetzt ist!

Dann kam eine Präsentation über die „stabile Beinachse im Tanz“, gehalten von Sandra Zenzen und Gaёlle Morello. Bei diesem Vortrag haben wir ausprobiert, wie es ist auf drei Stückchen Kork unter drei Punkten am Fuß zu stehen. Diese drei Punkte sind die, die wir Pädagogen unseren Schüler und Schülerinnen als wichtig vermitteln wollen: das Großzehgelenk, das Kleinzehgelenk und die Ferse. Diese Fixpunkte auf solche Weise den Kindern bewusst zu machen, halte ich für eine gute Idee.

Am Nachmittag wurden die letzten Workshops angeboten; ich war bei einem sehr praxisorientierten Workshop von Antje Kortes über „Psoas – Freie Hüften – Hohes Bein – Fasziale Stimulierung zur Aktivierung des Hüftbeugers“ dabei. Wir haben in Partnerarbeit versucht, die Faszienstränge über die Rückseite des Körpers zu stimulieren, und dann den Psoas (den großen Lendenmuskel) zu isolieren und zu mobilisieren. Das war nicht sehr einfach, und ich bin froh, dass ich Bettina Preuschoff von tanznetz.de als Partnerin hatte, denn sie ist auch Pilates Trainerin und kennt sich in diesem Gebiet gut aus.

Nach einer letzten Kaffeepause fand der letzte Vortragsblock mit dem Namen „Netzwerk Tanz“ statt. Zuerst referierte Dr. med. Patrizia Melchert über den Tanzsport und dessen häufigsten Verletzungen. Dort wird oft auf sehr hohen Schuhen getanzt, so dass die Verletzungen mehr im Vorderfuß zu finden sind. Danach kam einen Vortrag von Prof. Dr. med. Ingo Fietze über die Schlafqualität von Tänzer und Tänzerinnen. Fazit: Tänzer schlafen zu wenig. Oha. Laut diesem Vortrag leide mit weniger als sieben Stunden Schlaf pro Nacht das Immunsystem, die Wirbelsäule, die Knochendichte, der Muskelaufbau und das Gewicht. Auch die Gefahr Diabetes zu entwickeln steige, ebenso die Gefahr des Bluthochdrucks und eine verminderte Lebenserwartung. Die glücklichen Tänzer und Tänzerinnen des Berliner Staatsballetts! Sie haben einen „Ruheraum“, in dem sie sich an verschieden „Ruheplätzen“, die speziell dafür entworfen und hergestellt wurden, gut ausruhen können.

Aaron Watkin, der Artistic Director des Dresdner Semperoper Balletts, hielt den letzten Vortrag über seine Kompanie und sein Ziel, die Gesundheit seine Tänzerinnen und Tänzer zu optimieren. Mit dabei war der „Body Awareness Coach“ der Semperoper, Boglárka Hatala. Es ist wirklich schön, wenn sich eine Ballettkompanie neben Physiotherapeuten auch einen „Body Awareness Coach“ leisten kann und auch einen Direktor besitzt, der sehr um die Gesundheit seiner Tänzerinnen und Tänzer kümmert.

Damit war der diesjährige tamed Kongress für Tanzmedizin schon wieder zu Ende. Ich denke, ich werde noch Wochen und Monate daran „arbeiten“, alle Informationen und Erfahrungen zu verarbeiten, um alles verwerten, und hoffentlich auch sinnvoll in meine Arbeit und Leben einbauen zu können.
 

Kommentare

Noch keine Beiträge