Zum Abschluss der Spielzeit…

… nochmals die Robbins-Spoerli-Programmkombination

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Zürich, 19/06/2011

Sonntagabend, die vorletzte Ballettvorstellung der Saison. Volles Haus, inklusive der Stehplätze! Welch ein Unterschied zum halbleeren Haus am Abend zuvor, bei Janáčeks „Aus einem Totenhaus“ – nicht gerade ein publikumsattraktiver Titel – trotz der grandiosen Musik Janáčeks. Die Inszenierung von Peter Konwitschny, höchst umstritten, da sie das sibirische Sträflingslager des Originals in ein Zürcher Mafia-Milieu verlegt – eine todschicke Bar im Loft eines Hochhauses, hoch über dem Zürcher Bellevue – da stimmt nichts hinten oder vorn, abgesehen von der fabelhaften Leistung des Orchesters unter Ingo Metzmacher.

Die Vorstellung am Sonntag bekräftigt noch einmal die fünfzehnjährige Ballettpolitik Spoerlis (und seines Intendanten) mit dem eindeutigen Bekenntnis zur Priorität von Musik und Tanz akademischer Provenienz. Sie wird legitimiert durch den hochgradigen Professionalismus des Pianisten Alexey Botvinov in den Chopin-Nocturnes von Robbins‘ „In the Night“ und die souveräne Mahler-Autorität des Dirigenten Vladimir Fedoseyev (sowie des Orchesters und der Gesangssolisten Liliana Nikiteanu und Erin Caves) in Spoerlis „Lied von der Erde“. Die beiden Ballette ergänzen als Nacht- (und Abschieds-)Stücke einander ideal. Ein Abend aus einem Guss – auch in seiner exquisiten tänzerischen Kultiviertheit.

Es kommt noch etwas hinzu, was mir an diesem Abend besonders klar wird. Wie nämlich Zürich in diesen fünfzehn Spoerli-Jahren zum kontinentalen Einfallstor dessen geworden ist, was ich inzwischen in Ermangelung einer allgemein akzeptierten Definition das „handlungslose Handlungsballett“ nennen möchte. Damit ist eine Ballettform gemeint, die sich in dem letzten halben Jahrhundert herauskristallisiert hat – seit Robbins‘ „Dances at a Gathering“ (schade, dass gerade sie im Zürcher Werkkatalog der Spoerli-Jahre fehlen: ein Tipp in Richtung Christian Spuck in Sachen Nachholbedarf?) – aber natürlich hat Spoerli gleich in seiner ersten Zürcher Premiere mit den aus Düsseldorf übernommenen „Goldberg-Variationen“ genau diesen Typ von Ballett statuiert, die inzwischen zu einer Art Firmenschild der Zürcher Repertoirepolitik geworden sind.

Das „handlungslose Handlungsballett“ (wie ich es sehe) erzählt eine nicht narrative Story, die sich mehr in der Fantasie des Choreografen und der Tänzer abspielt – und jedenfalls nicht als Literatur in Worten dingfest gemacht werden kann. In diesem Sinn emanzipieren sich auch die Zuschauer, die aufgefordert sind, sich seine eigene Story auszudenken. Es repräsentiert also eine Art Nachfolge des Noverreschen Handlungs- oder Aktionsballetts. Ich wünsche mir, dass sich ein zeitgenössischer Autor fände, der über die schriftstellerische Kompetenz verfügt, sie literarisch zu legitimieren (etwa aus dem Umkreis des Hans Werner Henze‘schen Freundeskreises).

In diesem Sinne wären die Robbins'schen Nocturnes von „In the Night“ Short Ballets (entsprechend den Short Stories der amerikanischen Literatur). In Anschluss an die fünf jugendlichen Paare in „Dances at a Gathering“ hier nun reduziert auf drei Paare, die in einer späteren Phase ihres Lebens – reifer geworden, mit inzwischen markanter ausgeprägten Charakterprofilen – von ihren sehr unterschiedlichen Erfahrungen berichten. Die drei Zürcher Paare – Giulia Tonelli und Olaf Kollmannsperger, Sarah-Jane Brodbeck und Stanislav Jermakov, Galina Mihaylova und Arsen Mehrabyan – tanzen ihre drei choreografisch sehr verschieden timbrierten Duos und den finalen Pas de six mit einer Kultiviertheit und einem Knowhow, die sie in den langen Jahren ihres Umgangs mit Balletten dieses Typs etwa von Hans van Manen (zuletzt, vor einem Jahr, die Übernahme seiner „Frank Bridge Variations“) und Spoerli gewonnen haben (gerade auch in den zahlreichen Spoerli-Balletten zu Kammermusik von Bach bis zu Janáček und Berg). Und ich würde als Vorläufer auch Balanchines „Duo concertant“ dazu rechnen, das Zürich als Wiederaufnahme für die erste Premiere der nächsten Spielzeit am 2. September ankündigt.

Spoerlis „Lied von der Erde“ gehört natürlich nicht zu dieser Spezies – dazu nehmen die sechs Solorollen (Der Mann: Vahe Martirosyan, Die Ewigkeit: Karine Seneca, Der Tod: Felipe Portugal, Der Zweigeteilte: Arman Grigoryan, Das Mädchen: Galina Mihaylova und Die Schönheit: Sarah-Jane Brodbeck) als Allegorien allzu konkrete Gestalt an – und dazu ist auch der Ablauf ihrer sechs Sätze allzu fest in die Struktur eines Lebensablaufs eingebunden. In ihrer nächtlichen Thematik korrespondieren sie gleichwohl absolut stimmig mit der Thematik dieses Abends. Die zudem eine Woche vor Neumeiers Hamburger Version von Gustav Mahlers „Zehnter Sinfonie“ einen Bogen schlägt, der uns wieder einmal ins Bewusstsein ruft, wie glücklich wir, die wir das eng mit der Musik verschwisterte Ballett lieben, uns schätzen können, mit einem musikalisch so hochkarätigen Ballettangebot in unseren Breiten zum Ende der Spielzeit 2010/11 verwöhnt zu werden.

 

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