Von der Großstadt korrumpiert

Wiederaufnahme von Mauro Bigonzettis Visconti-Ballett „I Fratelli – Die Brüder“

Stuttgart, 24/01/2011

Die zweite große Verbrüderungsaktion beim Stuttgarter Ballett: nach John Neumeiers „Fratres“ sind jetzt „I Fratelli“ wieder im Programm, die Ballettadaption des berühmten Schwarzweißfilms „Rocco und seine Brüder“ von Luchino Visconti. Vier Jahre Abstand haben das düstere Werk nicht besser gemacht. Noch immer bleibt Mauro Bigonzettis zweistündiges Handlungsballett erschreckend spannungsarm, noch immer tendiert Bruno Morettis angenehme, bei aller Percussion-Lastigkeit eher von Puccini als von Strawinsky inspirierte Partitur zur freundlichen Untermalung.

Mit dem mageren Bühnenbild aus großen Podesten, die von den Tänzern immer wieder umgekippt werden müssen, versucht Bühnenbildner Fabrizio Montecchi die karge Ästhetik des filmischen Neorealismus in einen Minimalismus der Ausstattung zu übertragen und lässt doch am Ende keinerlei Atmosphäre entstehen: weder die Enge der Großstadt, ihre Hektik oder Lautstärke, noch die anonyme Betonwüste der Vorstädte, wo die Familie lebt. Zudem werden Mamma Rosaria und ihre fünf Söhne, die auf der Suche nach einem besseren Leben aus dem bettelarmen Süditalien nach Mailand kommen, auf diesen Podesten beständig erhöht, was kaum ihrem gesellschaftlichen Stand und auch nicht ihrem Seelenzustand entspricht. Weder in Bigonzettis Dramaturgie noch in seiner Bewegungssprache wird die Veränderung evident, der die Familie und ihr enger Zusammenhalt in der Großstadt unterliegen, erst recht nicht die Sehnsucht nach der Heimat, von der die Brüder im Film wieder sprechen.

Dabei hatte der italienische Choreograf in seinen anderen Stücken fürs Stuttgarter Ballett doch eigentlich bewiesen, wie subtil er Stimmungen heraufbeschwören kann. „I Fratelli“ stellt im Oeuvre des ansonsten so zupackend, so bildhaft und musikalisch choreografierenden Bigonzetti einen nur schwer verständlichen Tiefpunkt dar. Die eher stationär erzählte Handlung konzentriert sich fast vollkommen auf den Konflikt zwischen dem guten, engelsgleichen Rocco und seinem gewalttätigen Bruder Simone: beide lieben die Prostituierte Nadia. Die drei anderen Brüder, bei Visconti durchaus auch wichtig, sind mehr oder weniger zu farblosen Randfiguren verurteilt, dabei hätten ihre Darsteller Evan McKie, Arman Zazyan und der junge Julius Frank von der Cranko-Schule größere Rollen mit mehr persönlichen Charakteristika verdient.

Selbst die drei Hauptpersonen bleiben eindimensional, ihre Persönlichkeit entsteht kaum je aus der Choreografie, sondern aus der Ausdrucksstärke ihrer Darsteller: Marijn Rademaker ist der lyrische, aufrecht liebende und schließlich gebrochene Rocco, Damiano Pettenella zeichnet den von der Großstadt korrumpierten, ins Verbrechen getriebenen Simone als kalten Zyniker, Katja Wünsches Nadia bleibt mit ihren glühenden Augen von Anfang an eine Getriebene und Verlorene. Auch die große Marcia Haydée kann den Abend nicht retten, dazu hätte Bigonzetti ihrer Rosaria würdevollere Auftritte gönnen müssen und nicht diese komischen Stampfschritte, die wohl das Archaische der süditalienischen Bauern wiedergeben sollten und doch sämtliche Beteiligte unbeholfen aussehen lassen.

So bleibt die große Frage, warum Ballettchef Reid Anderson das Stück überhaupt wieder ins Programm genommen hat und dann ausgerechnet zum großen Jubiläum. Ausdrucksstarke und sicher noch großartigere Rollen hätten seine Tänzer auch in John Neumeiers Dramen „Endstation Sehnsucht“ oder „Othello“ oder in Christian Spucks „Lulu“ gefunden.

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