Tschechowsche Trauer und Melancholie

Daniel Goldin choreografiert Schumanns Zyklus „Dichterliebe“ in Münster

Münster, 27/01/2011

„Dichterliebe“ heißt Robert Schumanns hochromantischer Liebesliederzyklus auf Gedichte von Heinrich Heine. Daniel Goldin verfremdet den Titel für sein neues Ensemblestück „Dichter.Liebe“ und ergänzt die teilweise ebenso verfremdete Klangkulisse durch andere Werke des schwermütigen Rheinländers (z.B. „Belsazar“ und Eichendorffs „Mondnacht“). Zu sehen sind Tänzer. Trauer. Nichts ist zu spüren von dem Charme der kleinen Liebesgeschichte, die „im wunderschönen Monat Mai“ beginnt, unglücklich und mit Alpträumen endet – trostlos bei Goldin trotz der Verklärung durch den Frieden der Mondnacht („Es war als hätt‘ der Himmel die Erde still geküsst“). Tschechowsche Melancholie, Langeweile, Sehnsucht nach einem besseren Leben anderswo wabert über dem unwirtlichen Raum – einer staubigen, schmuddeligen verlassenen Scheune mit Holz-, Schwimmbad- und Feuerleitern, die zu Schlitzen nach draußen führen (Bühne: Matthias Dietrich). Grauen grau in grau: fünf Frauen und fünf Männer, barfuß und in schlichter Bekleidung (Kostüme: Gaby Sogl) bilden ein anscheinend zufällig zusammengewürfeltes Kollektiv von Flüchtlingen. Apathisch sitzen einige lange vor Beginn auf der offenen Bühne, streichen sich geistesabwesend mit den Händen übers Gesicht, gestikulieren wie traumatisiert, lassen sich willenlos von Frauen die Oberbekleidung ausziehen. Eine hockt zusammengekauert schlafend am Rande.

Ruhelos lebt sich’s hier. Es ist ein ständiges Kommen und Gehen. Immer mehr Sperrmüllmöbel schleppen manche durch das kleine Tor über den Berg aus Säcken herbei, arrangieren sie mal hier, mal dort – stapeln sie, decken sie schließlich mit weißen Tüchern zu, um das karge, improvisierte Zuhause zu verlassen. Dazwischen sitzt und liegt man und wartet – worauf? – oder erinnert sich: Alice Cerrato zum Beispiel kommt in einer Szene verkleidet als Leben und Tod hereinspaziert – vorn weiß mit lachender Maske, hinten schwarz mit Totenkopf. Hsuan Cheng sitzt immer wieder in gleicher Pose, ein Tässchen Tee zum Mund führend, unter herein rieselndem Schnee. Die zierliche Karen Ilaender trägt, wie die meisten, ein schäbiges Köfferchen bei sich. Als es aufspringt, purzeln lauter billige, blonde Perücken heraus, die sich alle wie Pelzkappen überstülpen und einen makaber anmutenden Tanz beginnen, sich schließlich mit düsterer Miene dicht auf einer Holzbank drängen. Einige dieser Ensembletänze sind sehr schön, ganz im gewohnten Goldin-Stil. Vor allem aber begeistern einige kurze Soli: Ardan Hussain (alternierend mit Paul Hess) tanzt überirdisch. Der baumlange Damiaan Veens schlängelt seine Gliedmaßen gewissermaßen um sich selbst. Matthias Schikora versucht Heiterkeit als geschminkter Clown. Ines Fischbach hastet und wirbelt wie irre. Hsuan Cheng dreht sich, bis der weit schwingende Rock sich eng um ihre Beine schlingt.

So kommt durch die Bewegung mitunter Grazie und Leben in den verzweifelt hektischen Aktionismus und das graue, triste Einerlei dieses armseligen Daseins. Es sind etwas mühsame 90 Minuten. Die choreografische Kraft und Qualität reicht bei weitem nicht an Goldins „Winterreise“ von 2003. Aber die zehn Tänzer berühren in Matthias Dietrichs Ambiente, das am schönsten wirkt, wenn es vom kalten, nüchternen Grau einmal in warmes, geradezu anheimelndes Braun getaucht wird. Also doch, hie und da, ein Funken Trost…

www.stadttheater.muenster.de

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