Phèdre, Tänzer: Karl Paquette

„Phèdre“: Karl Paquette

Kostümfest im Palais Garnier

Saisonbeginn an der Pariser Oper mit Lifar und Ratmansky

Paris, 24/09/2011

Große Enttäuschung herrschte bei den festlich aufgeputzten Gästen der Eröffnungsgala der Pariser Ballettsaison, als sie erfuhren, dass die Vorstellung wegen eines Streiks der Techniker ausfiel – ein Ärgernis, an das man im Land der französischen Revolution gewöhnt ist, das aber den um seine Uraufführung bangenden russischen Choreografen Alexei Ratmansky in tiefe Unruhe versetzte. Mehr Glück hatten Künstler und Publikum in der zweiten, ebenfalls streikbedrohten Vorstellung – an diesem Abend entlud sich das Gewitter über der Opéra Bastille, in der die „Faust“-Premiere ohne Bühnenbild stattfinden musste.

Ohne Bühnenbild und ohne Kostüme? Man wäre versucht zu sagen, eine solche Reduktion wäre ein Segen für Lifars „Phèdre“ gewesen, die seit der letzten Aufführung im Palais Garnier im Jahr 1977 (die Uraufführung fand 1950 statt, 1987 wurde das Werk mit Marcia Haydée und dem Ballet de Nancy verfilmt) darauf wartete, von der Muse wachgeküsst zu werden. Diese erschien gleich in doppelter Gestalt von Ballettdirektorin Brigitte Lefèvre und Danseuse Etoile Claude Bessy, die in der Uraufführung mitgewirkt hatte und nun das Ballett neu einstudierte. Typisch für Lifar ist hier der Einfluss der Ballets Russes deutlich zu spüren: Georges Auric lieferte eine Partitur, die wenig zum Erfolg des Werkes beigetragen hat, und Jean Cocteau zeichnete für Libretto und Ausstattung verantwortlich. Was die Kostüme angeht, ist diese Verantwortung nicht zu unterschätzen: warum Lifar, der selbst in der Uraufführung den Hippolyt tanzte, es sich gefallen ließ, dass Cocteau ihn in ein kanariengelbes Kostüm mit ebensolcher Perücke steckte, lässt sich heute nur noch mutmaßen, doch ist es bei dieser Wiederaufnahme – neben anderen rosa-orange-gelb-roten Merkwürdigkeiten – vor allem Nicolas Le Riche, der als Theseus in Violett mit widderähnlicher Perücke und gipsabgusshaftem Brustpanzer die denkbar schlechteste Figur macht. Das Dekor ist diskreter und gelungener: ein Theater im Theater, auf dem man sieht, was in der Ferne geschieht. So stellt sich Lifar der Schwierigkeit, dass in der klassischen französischen Tragödie die meiste Aktion außerhalb der Bühne stattfindet (was in der wortlosen Tanzkunst zu Verwirrung führen kann) und die Bühnenhandlung sich auf das Innere der Figuren konzentriert.

Das heißt in diesem Fall: auf das Innere der Phädra, die die einzige dramaturgisch substanzielle Rolle des Stückes ist (wenn auch Alice Renavands charismatische Oenone und der sich redlich abmühende Karl Paquette als Hippolyt Erwähnung verdienen). Phädras Lieben, Leiden und Sterben erfüllt das Ballett, und Marie-Agnès Gillot gelingt es, die Rolle mit all ihrer umwerfenden Intensität zum Leben zu erwecken.

Die Choreografie ist im höchsten Grade „lifarienne“, also neoklassisch mit einer deutlichen persönlichen Note des Choreografen, die sich unter anderem durch rechtwinklig abgeknickte Arme und Knie, Pliés auf Spitze (darunter das einst schockierende Grand plié à la seconde), zeigend oder leicht gerundet ausgestreckte Arme, verschobene Körperachsen und eine gewisse Neigung zur Pose auszeichnet. Dieser Zug wird hier akzentuiert, zumal der Choreograf sich für dieses Ballett von griechischen Reliefs inspirieren ließ. Oftmals bedient sich Lifar expressionistischer Gestik und Mimik, um die Handlung zu verdeutlichen. Alles in allem eine faszinierende Kuriosität aus der Schatzkiste des Repertoires, die ein Bild von einer entscheidenden Epoche der Pariser Oper vermittelt – zumal von den zahlreichen Werken, die Lifar während seiner Zeit an der Spitze der Kompanie schuf (1930-1958), nur „Suite en blanc“ regelmäßig aufgeführt wird.

Den zweiten Teil des Abends bildete Alexei Ratmanskys Uraufführung „Psyché“. Der ehemalige Direktor des Bolschoi-Balletts und jetzt beim American Ballet Theater residierende Choreograf ist bekannt dafür, das klassische Bewegungsvokabular auf seine Weise zu verwenden, denn er ist der Meinung, dass „ausgehend vom klassischen Schrittmaterial noch viel entdeckt werden kann“. Dies tut er wie so oft mit Geschmack und vielen guten Einfällen, doch wird auch hier die Choreografie ziemlich von der Ausstattung erdrückt, die nicht frei von Kitsch ist. Das Bühnenbild (Karen Kilminik) stellt mal einen Wald mit glitzernden Rehen, Eulen oder Wölfen dar, mal ein Märchenschloss in explosiv farbiger und geblümter Landschaft, in der aus unerfindlichen Gründen ein bierkrugähnlicher Pokal steht. Diese feenhaften, aber etwas zu sehr an die Dekoration einer Bonbonschachtel erinnernden Landschaften sind bevölkert von hübschen tanzenden Blumen und eher zweifelhaften flokatibekleideten Yetis und Papageien (Kostüme: Adeline Andrée), sowie von einem kecken Amor (Stéphane Bullion), der sich mit einigen Federn als Kostüm begnügt. Ein Glück, dass das Stück – das sonst gewisse Gefahr liefe, schon bei der Uraufführung ziemlich überholt zu wirken – beseelt wird von der herrlichen Aurélie Dupont als Psyche. Jede ihrer zaghaften Bewegungen ist von einer delikaten Poesie durchwirkt, die sie tatsächlich zur idealen Inkarnation der körperlosen himmlischen Liebe macht. Ratmansky hat für sie einige wunderbar zarte Soli und Pas de deux geschaffen, beispielsweise ihre Begegnung mit Amor, während der sie halb träumend und wie vom Hauch der Zephire getragen scheint.

Brigitte Lefèvre strebt offensichtlich zu Beginn dieser Spielzeit eine Wiederbelebung verlorener Schätze des Repertoires an (als nächstes Ballett steht eine neue Version von Delibes' „La Source“ auf dem Spielplan) – das Thema der Liebe zwischen Amor und Psyche erfreute sich seit Molière im französischen Ballett einiger Beliebtheit, und sogar in Stuttgart schuf Noverre 1762 eine Ballettfassung des Stoffes. Die Wiederentdeckung und Neuinterpretation dieser bedeutenden Werke hat unter anderem den Vorteil, selten gespielte Partituren zu beleben, wie hier César Francks wunderbare sinfonische Dichtung „Psyché“, doch bei allem historischen Interesse bleibt die Absicht manchmal unklar: handelt es sich darum, ein Echo einer vergangenen Epoche erklingen zu lassen? Oder um eine Modernisierung eines ballettgeschichtlich bedeutsamen Stoffes, wie es Neumeier so meisterhaft in „Sylvia“ gelang? Ist der Blick ernst oder, wie es die kratzbürstigen Schwestern in „Psyché“ vermuten lassen könnten, humorvoll? Man bleibt etwas ratlos vor diesem Werk, das anders als Ratmanskys Neuinterpretationen des sowjetischen Repertoires keine klare Referenz in der Vergangenheit hat, aber auch in unsere Zeit nicht recht passen will. Doch verzeiht man solche Unklarheit angesichts der Poesie und Musikalität der Choreografie, die ihr Recht geltend macht, keiner Zeit anzugehören und das Publikum – wie im 17. und 18. Jahrhundert, als Psyche auf den Ballettbühnen eine leichtfüßige Existenz führte – einfach mit ihrer Schönheit zu erfreuen.

Besuchte Vorstellung: 22.09.2011
www.operadeparis.fr

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