Der Tanz-Philosoph

Jan Pusch, der neue Tanz-Direktor am Staatstheater Braunschweig, im Gespräch

Braunschweig, 01/05/2011

Seit Beginn dieser Spielzeit ist Jan Pusch Tanzdirektor, künstlerischer Leiter und Chefchoreograf der Sparte Tanz am Staatstheater Braunschweig. Mit seiner ersten Premiere „Bingo?“ feierte er zusammen mit der neuen Kompanie, die von der regionalen wie überregionalen Presse begeistert aufgenommen wurde, einen sensationellen Start. Nach seiner Ballettausbildung in Frankfurt und München tanzte er zunächst mehrere Jahre lang im Hamburg Ballett unter John Neumeier. Hier war er neben den Uraufführungen wie Mozarts „Requiem“ auch in Handlungsballetten wie „Dornröschen“ oder „Romeo und Julia“ zu sehen.

Seit 1994 arbeitet er freischaffend als Choreograf, Regisseur und Komponist. Er schuf zahlreiche Tanzstücke wie „Into the Blue“ (2001) und „Match“ (2004), die auf Kampnagel Hamburg uraufgeführt wurden. Als Gastchoreograf arbeitete er mit verschiedenen Kompanien im In- und Ausland. Als Regisseur erhielt er mit Theater Triebwerk für die Produktion „Das klingt verdächtig“ (2007) den 1. Hamburger Kindertheaterpreis. Darüber hinaus wurde er für seine choreografische Arbeit mehrfach ausgezeichnet, darunter mit dem 1. Preis des Internationalen Solo-Tanz-Festivals in Stuttgart und dem Kritikerpreis beim Internationalen Choreografen-Wettbewerb in Hannover. Zahlreiche Einladungen zu internationalen Festivals führten ihn u.a. nach Lateinamerika, Japan, Indien oder Russland. Seit 2007 choreografierte Jan Pusch am Staatstheater Oldenburg mehrere Uraufführungen für die nordwest/Tanzcompagnie Oldenburg. 2010 betreute er als künstlerischer Koordinator die Movimentos Akademie für Kinder und Jugendliche in Wolfsburg und wird die Kooperation mit der Autostadt in den nächsten Jahren fortsetzen.

Günther Westenberger sprach mit Jan Pusch über seine Produktionen am Staatstheater Braunschweig, seine neue Kompanie und seine Pläne und Visionen.

Am 7. Mai feiert Ihr Tanzstück „Into the Blue“ im Kleinen Haus des Staatstheaters Premiere. Was hat Sie bewogen, statt einer Uraufführung ein international erfolgreiches, also bereits bühnenerprobtes Werk, auf den Spielplan zu setzen?

Jan Pusch: Bei der Planung der Spielzeit galt es, mich als neuen Leiter der Sparte und die 16 Tänzerinnen und Tänzer der frisch zusammengesetzten Kompanie, die ich ja nur vom Vortanzen kannte, nicht zu überfordern. Also sah ich die Produktion im Großen Haus als Uraufführung vor, während ich an den anderen Spielstätten bewährte Arbeiten von mir und somit meine choreographische Handschrift vorstellen wollte. Der Begriff „Wiederaufnahme“ ist in diesem Zusammenhang allerdings unpassend. Da ich ja stets auch der Erfinder und Autor meiner Tanzstücke bin, darf ich einen Vergleich anstellen: Im Schauspiel oder Musiktheater erfahren ja fast immer bereits geschriebene und komponierte Werke mit jeweils anderen Akteuren stets neue Deutungen. In diesem Sinne wird auch bei „älteren“ Tanzstücken ein bereits vorhandenes Werk nicht aufgewärmt, sondern neu und anders interpretiert.

Was ist das Besondere, das Neue an „Into the Blue“, das den internationalen Erfolg des Stückes begründet?

Jan Pusch: „Into the Blue“ stellt eine bis dahin unbekannte Symbiose zwischen Bühnentanz und Videoprojektionen dar. Mittels der Projektionen kann ich einen bewegten Raum erzeugen, und somit wird dieser zum elementaren Bestandteil der Choreografie. Lichtstarke Projektoren können seit den 90er Jahren auch mit Bühnenlicht kombiniert werden, was ganz neue Möglichkeiten eröffnete. Das Medium des bewegten Bildes zieht unsere Aufmerksamkeit unwillkürlich und stark an. Wir kennen das: Man sitzt im Café bei interessanten Gesprächen und lässt sich ungewollt von einem im Hintergrund laufenden Fernseher ablenken. Man möchte offenbar viele Realitäten gleichzeitig erleben. Das hat mich herausgefordert. Ich wollte mich intensiv damit auseinandersetzen, wie man die verschiedenen Erzähl- und Darstellungsebenen Tanz, Projektion, Musik, Licht und Raum zu einer einheitlichen Aussage verschmelzen kann.

Wie haben Sie aus diesen Beobachtungen und Überlegungen ein bühnentaugliches und -wirksames Stück, also eine Handlung oder Geschichte entwickelt?

Jan Pusch: Eine Handlung im klassischen Sinn gibt es nicht, wohl aber ein in Szene gesetztes Thema. Es geht um das uns alle faszinierende Verhältnis zwischen Realität und Scheinrealität, letztere in Form der Simulation, so wie wir sie zum Beispiel aus Computerspielen kennen. Jeder von uns möchte oder würde sich doch zu gerne seine eigene Realität erschaffen oder wenigstens der eigenen Realität zeitweise entfliehen und andere Realitäten kennenlernen. Darin liegt die Faszination von Geschichten, von Literatur, von Filmen, von Virtual Reality. Das mündet in ganz unterschiedliche Wünsche und Sehnsüchte.

Das klingt noch immer recht theoretisch. Wie also stellen Sie diese Sehnsüchte auf der Bühne dar?

Jan Pusch: Aus diesen Überlegungen habe ich drei Tanzsoli entwickelt, die zusammen mit den eigens dafür geschaffenen Videosequenzen drei solche Sehnsüchte zeigen. Das erste Solo widmet sich dem Wunsch, die Lebenswelt und den eigenen Körper so zu erschaffen und zu modulieren, wie wir sie gerne hätten. Das zweite Solo zeigt das zwischenmenschliche Bedürfnis, sich in andere hineinzuversetzen, bis hin zur Verschmelzung der Identitäten. Und das dritte Solo setzt sich mit der Sehnsucht auseinander, an mehreren Orten gleichzeitig zu sein, also gleichzeitig mehrere Realitäten zu erleben. Bei allen dreien spielen wir mit den Fragen: Was wäre, wenn wir das wirklich könnten, wenn die moderne Technik uns dazu verhülfe? Wären wir dann endlich „Master of the Universe“ oder würde sich unsere eigene Identität mit anderen überlagern und somit gegenseitig auslöschen?

Jede dieser drei Sehnsüchte wird somit von je einem Tänzer dargestellt?

Jan Pusch: Richtig. Und da jede Rolle doppelt besetzt ist, ergibt sich die Situation, dass sowohl das Publikum also auch ich selbst einige Tänzer aus der neuen Truppe sehr intensiv erleben und kennen lernen können.

Die nicht an „Into the Blue“ beteiligten Tänzer sind also in die anderen Produktionen eingebunden.

Jan Pusch: Oh ja, keiner aus der Truppe dürfte sich unterfordert oder unterbeschäftigt fühlen (lacht). Vier Produktionen in einer Spielzeit zu bewältigen, bedeutet für eine so kleine Kompanie eine sehr gute Auslastung. Man darf nicht unterschätzen, dass Tanz eine sehr probenintensive Kunst ist, denn Tänzer und Choreografen haben keine solch eindeutigen und direkt umsetzbaren Notationsmöglichkeiten, wie sie im Schauspiel oder im Musiktheater seit Jahrhunderten selbstverständlich sind. Das heißt, dass wir alle aktuellen Stücke vor jeder Vorstellung einmal komplett im Durchlauf proben und im Ablauf koordinieren müssen. Gegebenenfalls muss man sogar noch Korrekturen einplanen. Aktuell laufen die Stücke „Bingo?“ im Kleinen Haus und „Final Fiction“ im Großen Haus. Kurz vor der Premiere von „Into the Blue“ am 7. Mai kommt im Haus Drei am 3. Mai das Tanzstück für Kinder „Springinsfeld“ heraus.

Das letztgenannte Stück ist im Gegensatz zu den drei anderen kein Werk von Ihnen. Da wird man einen Gastchoreografen erleben.

Jan Pusch: Für diese Produktion konnten wir den von mir sehr geschätzten Wilfried van Poppel gewinnen. Inspiriert durch die Geschichten des amerikanischen Kinderbuchautors Arnold Lobel, lässt van Poppel seinen Helden, den Grashüpfer Springinsfeld, eine exotische Welt entdecken. Ein Stück mit einer sympathisch optimistischen Botschaft.

Dagegen hat Ihr Tanzstück „Final Fiction“ eine weniger klar umrissene Botschaft, sondern wirft mehr Fragen auf, als es zu beantworten versucht.

Jan Pusch: Ja, könnte man so sehen. Es beschäftigt sich mit Bruchstücken einer Biografie, Fragmenten einer Weltanschauung, großen Wünschen und bitteren Enttäuschungen, Ritualen und unserer Sehnsucht – schon wieder eine Sehnsucht – nach dem Besonderen und Einzigartigen in unserem Leben. Diese Sehnsucht wirft unweigerlich Fragen auf: Was bleibt von uns? Bleiben wir so in Erinnerung, wie wir sein wollten? Wer werden wir gewesen sein?

Wie gehen Sie damit um, als Chef einer Sparte Tanztheater ständig neue Stücke und Stoffe zu schöpfen, zu erfinden, zu erschaffen? Denn anders als im klassischen Ballett gibt es ja nur ganz wenige „fertige“ Stücke.

Jan Pusch: Es gibt die recht verbreitete Erwartungshaltung, im zeitgenössischen Tanz sollte man pro Jahr zwei bis drei Uraufführungen herausbringen. Das halte ich für künstlerisch sehr grenzwertig, denn als Autor benötige ich eine entsprechende Vorbereitungszeit. Man würde zur Oberflächlichkeit gezwungen, wenn die Phasen der gedanklichen Annäherung an ein Thema und dessen Ausarbeitung zu kurz wären.

Bei „Into the Blue“ liegt dieser Entstehungsprozess bereits eine Weile zurück, ist der kreative Schaffensakt erledigt. Nun geht es an den kreativen Umsetzungsprozess mit neuen Tänzern. Wie verhält es sich mit der Musik und den Videoeinspielungen?

Jan Pusch: Die Musik existiert freilich schon. Sie wurde von Beat Halberschmidt, mit dem ich gerne und konstruktiv zusammenarbeiten kann, am Computer direkt komponiert. Die musikalischen Abläufe, der Rhythmus, die Sounds und Geräusche sind elementar an der Gesamtwirkung beteiligt. Sehr aufwändig ist die Einstudierung im Hinblick auf perfektes Zusammenspiel zwischen Tänzern und Technik. Die Videos werden ganz neu produziert – der Dreh dauert etwa anderthalb Wochen –, weil die Tänzer in den Videosequenzen zu sehen sein werden. Da sie gleichzeitig live auf der Bühne und als Imagination auf der Projektionsfläche zu sehen sind, verschwimmen die verschiedenen Realitäten.

Wie darf man den Titel „Into the Blue“ verstehen und deuten?

Jan Pusch: Er hat nichts mit der deutschen Redewendung „ins Blaue…“ zu tun, sondern ist inspiriert durch das technische Blau aus dem RGB-Farbmodell. Man kann dieses Grundblau beispielsweise bei manchen Kameras und Monitoren sehen, die gerade keine Bildsignale empfangen. Gleichzeit assoziiere ich mit Blau ein Gefühl von Luft, Raum und Weite. Und drittens bedeutet das englische „out of the blue“ so viel wie „plötzlich“, und das wiederum hat für mich etwas mit Zeit, mit Endlichkeit oder eben Unendlichkeit zu tun.
Quelle: TOP MAGAZIN Südostniedersachsen (Ausgabe 2011-1) www.staatstheater-braunschweig.de

 

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