Die Rückkehr Rosarias und ihrer Familie aus dem Urlaub

Mauro Bigonzettis „I Fratelli“ nach langer Pause wieder im Spielplan des Stuttgarter Balletts

oe
Stuttgart, 10/02/2011

Vor fünf Jahren uraufgeführt im Auftrag des Stuttgarter Balletts, hat Mauro Bigonzettis Zweiakter „I fratelli“ nach Viscontis Film „Rocco und seine Brüder“ bei seiner Premiere ein eher zwiespältiges Echo ausgelöst. Umso größer das Erstaunen jetzt bei seiner Wiederbegegnung einen der spannendsten Theaterabende der letzten Zeit zu erleben, der vom Publikum mit geradezu enthusiastischer Zustimmung aufgenommen wurde. Dabei hat sich an der Aufführung nichts Wesentliches geändert – auch nicht die Besetzung der Hauptrollen mit Marcia Haydée als matriarchalische Zentralgestalt des sizilianischen Familienclans, mit Marijn Rademaker als Rocco und Jason Reilly als Simone als den beiden so unterschiedlichen Brüdern nebst Katja Wünsche als Nadia, deren Interpretationen allerdings über die Jahre erheblich an psychologischer Differenziertheit und tänzerischer Eloquenz gewonnen haben – wie wenn sie gut erholt aus einem langen Urlaub an den Ort des Geschehens zurückgekehrt wären.

Ich muss allerdings gestehen, dass mir erst jetzt bewusstgeworden ist, wie handwerklich perfekt das Ballett gearbeitet ist. Wie die dramaturgische Verzahnung der einzelnen kontrastreichen Szenen mit der filmisch suggestiven Musik von Bruno Moretti funktioniert (die Wolfgang Heinz mit dem Staatsorchester atmosphärisch dicht beschwört). Wie hier sehr unterschiedliche Massenensembles (das hektische großstädtische Chaos zu Beginn, später dann die Hochzeitsfeierlichkeiten und die Boxkämpfe) gegeneinander ausgespielt werden, bevor im zweiten Teil die großen, sehr verschieden gefühlstimbrierten Pas de deux angelegt sind und gesteigert werden, und wie sich zunehmend die Verlorenheit der Menschen in dieser ihnen ungewohnten Umgebung trauernd ausbreitet: das verrät einen eminenten theatralischen Spürsinn, der eine wachsende Spannung erzeugt, wie sie relativ selten im Ballett zu erleben ist. Der Vergleich mit Neumeiers „Endstation Sehnsucht“ liegt nahe (gerade auch der Vergleich der unterschiedlichen erotischen Finessen, deren sich Bigonzetti und Neumeier bedienen). Sie alle sind an ihren Rollen gewachsen (Katja Wünsche über alles, was wir bisher von ihr gesehen haben – welche eine Charakter-Spannweite zwischen ihrer Lena bei Spuck und ihrer Nadia bei Bigonzetti).

Wenn ich hier nur Haydée erwähne, so um noch einmal im Abend ihre Karriere ihre tanzschauspielerische Lebensleistung zu vergegenwärtigen – welch eine Galerie der Frauenporträts von Medea über Julia, Tatjana, Katharina, Kameliendame, Blanche Dubois, Duncan, Garbo, Callas, Giuseppina Malina und … und … und … Dank an eine Tänzerin, die mit Stuttgart verschmolzen ist wie Fanny Elssler mit Wien, Marie Taglioni mit Paris, Galina Ulanowa mit Moskau – und die von ihren Ausflügen rund um den Globus doch immer wieder an den Neckar zurückgekehrt und hier zu Hause ist, im Opernhaus am Eckensee.

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