Endstation Milano

Mauro Bigonzettis Ballett „I fratelli - Die Brüder"

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Stuttgart, 01/12/2006

Mauro Bigonzettis abendfüllende „I fratelli – Die Brüder“, uraufgeführt mit rauschendem Erfolg vom Stuttgarter Ballett, ist die italienische Antwort auf John Neumeiers „Endstation Sehnsucht“. Und doch nicht so ganz! Während Neumeiers Ballett in zwei Teilen nach Tennessee Williams zutiefst in den amerikanischen Südstaaten und der lokalen Mentalität von New Orleans verankert ist, bleibt der Bezug von Bigonzettis Zweiakter nach Luchino Viscontis „Rocco e i suoi fratelli“ zum Background des Nachkriegsitaliens und seiner Problematik des Kulturclashs zwischen dem landwirtschaftlich geprägten Mezzogiorno und dem industrialisierten Norden um Mailand weitgehend ausgespart.

Es ist der Mangel an spezifischer Couleur locale, der das entscheidende Manko des Balletts gegenüber dem Kultfilm von 1960 ausmacht. Sie ist noch am ehesten an der Musik von Bruno Moretti zu entdecken, die einen enorm weiten Spannungsradius hat (und dabei immer exakt die jeweilige dramaturgische Situation reflektiert) – von den zarten Streicherklängen des Beginns, die wie in einer nostalgischen Vision das Sizilien des „Cavalleria“-Intermezzos suggerieren bis zu den Tutti-Schlägen der großstädtischen Rushhour, für die Bigonzetti ähnliche choreografische Betriebsamkeitsformen verwendet wie Neumeier für seine Vermessung des Vieux carré.

Doch so reduziert sich die soziokulturelle Problematik des Films über den Zerfall herkömmlicher, ja archaischer Strukturen im Ballett zu einem Eifersuchtskonflikt zweier gar nicht einmal charakterlich sehr unterschiedlicher Brüder und dem Auseinanderdriften einer Familie. Da mag Marcia Haydée als Denkmal matriarchalischen Zusammenhalts noch so sehr gegen die Auflösungserscheinungen der modernen Gesellschaft barmen. Kommt hinzu, dass Bigonzetti im ganzen ersten Teil des Balletts kein Spannungsverhältnis – auch nicht zwischen den beiden Brüdern – schafft, sondern lediglich Bilder aneinanderreiht und erst nach der Pause die Rivalität der beiden Brüder in die tödliche Katastrophe treibt.

Diese Bilder haben es allerdings in sich und weisen ihn als einen Choreografen von energetischen Kraftströmen aus. So gleich das Eingangsbild des großstädtischen Treibens, das den Tänzern des Stuttgarter Balletts glänzende, von ihnen maximal genutzte Möglichkeiten bietet, ihre virtuose Vielseitigkeit zu demonstrieren – wie später auch im Hochzeitsbild (weniger in den beiden läppischen Boxkämpfen, denen eine fachliche Beratung durch Henry Maske oder Wladimir Klitschko gut getan hätte). Und er ist ein formidabler Arrangeur von Pas de deux – weniger der zarten, lyrischen Art, sondern eher hart im Zupacken bis zur Brutalität.

Das kommt den drei Protagonisten zugute, die sich vehement in ihre Rollen stürzen: Katja Wünsche, die als Frau zwischen den beiden Männern ein beeindruckendes Spektrum ihrer expressiven Fähigkeiten bietet, wie auch Marijn Rademaker, der als Gutmensch Rocco zwar nicht die dostojewskische Tiefendimension des „Idioten“ auslotet, gleichwohl in seiner liebevoll-begütigenden Art sehr für sich einnimmt, während Jason Reilly als gewalttätiger Simone seine Rolle wie bei einem Casting für die Mitgliedschaft in der Mailänder Mafia anlegt.

Wer nach der Aufführung allerdings zur gerade erschienenen DVD des Visconti-Films zurückkehrt, ist hin und her gerissen zwischen der moralischen Trauer Viscontis über den Zustand einer Welt, in der Simones Schlechtigkeit ebenso schädlich ist wie die Güte Roccos – einer Welt, die keinen Platz für Heilige wie ihn hat – und der Brisanz, mit der Bigonzetti namentlich im zweiten Akt seines Balletts die Katastrophe eskalieren lässt.

 

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