Kein Ausweg aus der Unterwelt

Sasha Waltz inszeniert Pascal Dusapins Oper „Passion“ im Théâtre des Champs Elysées

Paris, 08/10/2010

Kein Mythos feiert die Macht der Musik wie der von Orpheus, in dem der Sänger selbst die Gesetze des Todes überwindet. Deswegen mag es kaum verwundern, dass die Thematik immer wieder Komponisten inspiriert hat, am bekanntesten Claudio Monteverdi und Christoph Willibald Gluck. Auch Choreografen haben den Stoff wiederholt aufgegriffen, von Lucien Petipa bis Maurice Béjart, von George Balanchine bis William Forsythe, von Heinz Spoerli bis Pina Bausch. Letztere schuf 1975 ihre Version des Mythos in Form einer getanzten Oper (siehe tanznetz vom 29.06.2005), deren Harmonie und Expressivität schwer zu überbieten ist. Das musste jüngst unter anderem Christian Spuck erfahren, dessen getanzte Orpheus-Oper für das Stuttgarter Ballett eher eine bewegte Operninszenierung mit dekorativen Tanzeinlagen als eine wahre Symbiose von Gesang und Tanz erreichte.

Die Berliner Choreografin Sasha Waltz hatte demgegenüber den Vorteil, dass ihre Tanzinszenierung des Mythos in Zusammenarbeit mit dem Komponisten der Oper entstand. Wenn auch die mit „Passion“ betitelte Kammeroper des erfolgreichen französischen Komponisten Pascal Dusapin bereits vor zwei Jahren beim Festival von Aix-en-Provence uraufgeführt wurde, so gab es doch bei der Vorbereitung dieser Neuinszenierung einen regen Austausch zwischen Paris und Berlin, zwischen Sängern der Uraufführung und Tänzern. Sasha Waltz wagte es hier, die Sänger der Hauptrollen voll in die getanzte Inszenierung mit einzubringen, sie wahrhaftig als singende Tänzer auftreten zu lassen, die sich optisch kaum vom Rest des Tänzerensembles unterscheiden.

Auch bringt sie Musiker auf die Bühne, beispielsweise einen Oud-Spieler gegen Ende des Stückes. Insofern geht sie weiter als Pina Bausch, die bei aller Interaktion Sänger und Tänzer trennt. Dennoch fühlt man sich immer wieder optisch an Bauschs Version des Mythos erinnert, sowohl in den Kostümen (Anzüge und fließende Kleider in schwarz, weiß, braun und grau) als auch in den tranceähnlichen Bewegungen der Tänzer, wenn diese vergebliche Ausbruchsversuche starten oder rückwärts rennend wie durch einen Sog in die Unterwelt zurückgezogen werden.

Trotzdem schafft Sasha Waltz eigene, originelle Tanzbilder, die oft nicht in direkte Verbindung mit dem Libretto zu bringen sind. Dies liegt unter anderem daran, dass die Oper kaum eine Geschichte erzählt. Dusapin nimmt zwar Bezug auf Monteverdis „Orfeo“ und die barocke Oper, deren Instrumente er teilweise in sein Werk mit einbezieht, doch spielt er nur indirekt auf den Orpheus-Mythos an, der weder im Personenverzeichnis noch im Titel Spuren hinterlässt. Die beiden Hauptfiguren „Lui“ und „Lei“ (Georg Nigl und Barbara Hannigan) scheinen sich während des ganzen Stückes in der Unterwelt zu befinden, auf dem Weg nach oben, von ihren Zweifeln zerrissen und schließlich wieder getrennt. Anders als bei Gluck und Monteverdi ist der Fortgang der Handlung innerhalb der anderthalb Stunden, die das Werk dauert, minimal – dies erlaubt kaum Narrativität in der tänzerischen Inszenierung.

Dafür gestattet das Sujet der mit „Passion“ betitelten Komposition die Darstellung von Liebe, Misstrauen und Leidenschaft in den verschiedensten Spielarten – seit jeher Lieblingsthemen des Tanzes. Leider ist von dieser Leidenschaft im Tanz nicht sehr viel zu spüren – mag es daran liegen, dass sie auch in der subtilen, trotz aller Aufschreie und Seufzer sorgfältig-kleinteiligen Komposition wenig zum Vorschein kommt? Hier gibt es keine Aufwallungen des Gefühls wie beispielsweise bei Gluck; auch die Stimmungswechsel sind weniger markant, und dementsprechend ist der Tanz ein Fließen, ein Rennen und Ziehen, ein Wegstoßen und Aneinanderschmiegen, das sich assoziativ in das Handlungsgewebe einfügt. Ist anfangs der Tanz noch dem Gesang sehr untergeordnet, so gewinnt er im Lauf des Stückes an Ausdruckskraft und das Visuelle allgemein an Bedeutung.

Originell ist dabei ein Duo zwischen Zaratiana Randrianantenaina und Edivaldo Ernesto, in dem jeweils ein Partner vom anderen getragen wird und kaum den Boden berührt. Ernesto hebt sich optisch durch ein einziges blaues Kostüm von seiner Umwelt ab (Bühnenbild: Thilo Reuther, Kostüme: Hussein Chalayan), und auch tänzerisch tritt er in einigen kurzen Soli hervor, die Verlorenheit und Ausbruch andeuten. Ganz zum Schluss gelingen Waltz noch einige beeindruckende Bilder, beispielsweise ein Solo einer Tänzerin mit einer Wolke aus schwarzen Luftballons, die über ihr schweben, in denen sie verschwindet und die schließlich mit ihrem Kleid davonfliegen und sie halbnackt zurücklassen. Hier wird geschickt mit den Lichteffekten auf den schwarzen Ballons, mit der Schwerelosigkeit und mit der Teilbarkeit der Ballonmasse gespielt. Auch schwarze Federn werden verstreut und schließlich zeigt ein riesiges Video Eurydikes Rückfall in die Unterwelt.

Auf dieser ruhen letztendlich alle Augen: das ist wenig verwunderlich, zumal Barbara Hannigan eine sowohl stimmlich als auch tänzerisch hervorragende Leistung bringt. Sie scheint in der Tat der Antrieb und das Zentrum des Stückes, in dem sich alles eher um ihren geistigen Weg als um den Kampf des „Lui“-Orpheus dreht. So beendet sie das Stück um das ewige Nichtzueinanderfinden mit dem enigmatischen Satz „ora so tutto“ – „nun weiß ich alles“ – und sie ist letztendlich von der Leidenschaft befreit, mit der er auf seinem Weg in die Oberwelt zurückbleibt.

Besuchte Vorstellung: 6.10.10 
www.sashawaltz.de
 

Kommentare

Noch keine Beiträge