Keine Gnade für Orpheus

Pina Bauschs „Orpheus und Eurydike“ im Palais Garnier

Paris, 29/06/2005

Ein Liebender, der dem Tod trotzt und mittels seines himmlischen Gesanges die verstorbene Geliebte aus dem Totenreich befreit - ein Mythos, der sich ideal für die musikalische Umsetzung in eine Oper eignet, geschehen unter anderem 1762 durch Christoph Willibald Gluck. Pina Bausch fügt dem Gesang noch den Tanz hinzu und schafft ein Gesamtkunstwerk, dessen kürzliche Erstaufführung im Palais Garnier eine bedeutende Neuerwerbung für das Repertoire des Ballet de l‘Opéra National de Paris darstellt.

Das Ballett besteht aus vier Bildern, die die Titel „Trauer“, „Gewalt“, „Frieden“ und „Tod“ tragen. In diesen wird während zweieinhalb Stunden die Leidensgeschichte des Orpheus erzählt, die - entgegen der Gluckschen Oper, aber dem griechischen Mythos entsprechend - mit dem Tod der beiden Liebenden endet. Die drei getanzten Hauptrollen - Orpheus, Eurydike, Amor - werden dabei stets von einem gesungenen, sich auf der Bühne aufhaltenden „Double“ begleitet, was eine bessere Verknüpfung von Gesang/Text und Tanz ermöglicht. Im ersten Tableau wird die Reaktion des Orpheus auf den frühzeitigen Tod seiner Gattin dargestellt. Kader Belarbi verkörpert den traurigen Sänger in einer Mischung aus Verzweiflung und Verklärung.

Während der zweieinhalb Stunden Vorstellungszeit ist er fast ununterbrochen auf der Bühne und wechselt zwischen schmerzvoller Trauer und Rebellion gegen sein ungerechtes Schicksal. Auffallend ist jedoch, dass er in keinem Augenblick wirklich an die Rettung seiner Geliebten zu glauben scheint, denn er wirkt von Anfang an so verklärt, dem Leben bereits so fern, dass nie ein Hoffnungsschimmer sein Gesicht erhellt. Sehr deutlich sichtbar ist hingegen sein Leiden, das sich in zahlreichen Kreuzigungsposen ausdrückt, in anderen Momenten bewegt er sich wie in Zeitlupe. Sein Schicksal scheint für ihn ein Gegenstand der existentiellen Reflexion, anders als für Yann Bridard, Erstbesetzung des Orpheus, dessen Leiden physischer ist und der sich in gewissen Momenten stärker dem Kampf und der Hoffnung hingibt.

Im zweiten Tableau präsentiert uns Pina Bausch eine ganz in Weiß gehaltene Unterwelt. Die Furien und Zerberus (ein beeindruckendes Tänzertrio im Schmiedeschurz) werden charakterisiert durch eckige oder hektische Bewegungen, die auf der einen Seite Angst und Verwirrung, auf der anderen Seite Brutalität ausdrücken. Man kann hier, wie im ganzen Stück, nur das Corps de Ballet bewundern, dem es gelingt, das Bewegungsmaterial der Choreographin vollkommen zu verinnerlichen Nach dem Unterweltstableau bildet das dritte Bild, getragen von der wahrhaft himmlischen Musik Glucks, einen weiteren Höhepunkt des Stückes. Hier sind besonders Emilie Cozette, Miteki Kudo und Alice Renavand im Corps de Ballet zu erwähnen, deren außergewöhnliche Fluidität die Variation der Seligen beinahe überirdisch erscheinen lässt. Eleonora Abbagnato als Eurydike schließlich hat alles, was diese Rolle verlangt, vor allem zeichnet sie sich durch eine außergewöhnliche Sensibilität aus. Schnell macht ihre Freude über das Wiedersehen mit Orpheus der Sorge Platz, sie folgt ihm mit ängstlichen Blicken, fragt, warum er sie nicht ansieht, zweifelt schließlich an seiner Liebe und wünscht sich ins Totenreich zurück.

Das vierte Bild ist ein einziges Leidenstableau, in der die Sorge Eurydikes und das Schweigegebot des Orpheus aufeinanderprallen und schließlich zur finalen Katastrophe führen. Gleich dem Tanz war auch die musikalische Begleitung durch das Balthasar Neumann Ensemble und Chor unter der Leitung von Thomas Hengelbrock von außergewöhnlicher Qualität, so dass die zweite Zusammenarbeit zwischen der deutschen Choreographin und der Pariser Kompanie - der einzigen übrigens, die neben dem Tanztheater Wuppertal Stücke Bauschs im Repertoire hat - sich als voller Erfolg erweist, der auf weitere Kooperationen dieser Art hoffen lässt.

Besuchte Vorstellung: 10.06.04

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