Was ist schon „normal“?

„Out of Context – for Pina“ von Alain Platel feiert Deutschlandpremiere bei „Tanz Bremen“

Bremen, 12/04/2010

Das neue Stück von Alain Platel war der Auftakt des Festivals „Tanz Bremen“. Und so gab es vor der vor der Deutschlandpremiere von „Out of Context – for Pina“ noch viele Worte über den Tanz, über die Kürzungen und Beschneidungen, die derzeit stattfinden und das obwohl der zeitgenössische Tanz doch so wichtig sei für das kulturelle Leben und die Gesellschaft, in der wir leben.

Dass dies nicht einfach nur leere Worte sind, unterstreicht das neue Stück von Alain Platel perfekt. Außenseiter und Randgruppen spielen die Hauptrolle auf seiner Bühne. Alain Platel, der selbst einige Jahre mit schwer behinderten Kindern als Heilpädagoge gearbeitet hat, verfügt über eine wunderbare Beobachtungsgabe. Erschreckend echt und in großer Vielfalt imitieren die acht Tänzer des „Les Ballets C de La B“ körperliche Behinderungen, Abnormitäten und Spasmen. Und obwohl Alain Platel dabei niemals darauf abzielt Menschen mit Behinderung bloßzustellen oder zu denunzieren, fühlt sich der Beobachter stellenweise unwohl in seiner voyeuristischen Position.

Hier wird er plötzlich gezwungen die unkontrollierten, „unschönen“ oder deformierten Bewegungen und Körper anzusehen, wo er normalerweise auf der Strasse wegschauen würde, weil es sich nun mal nicht gehört, behinderte Menschen „anzustarren“. Während die Gruppe sich anfangs tänzerisch und nur mit Unterwäsche bekleidet einem kleinen Fingerspiel hingibt, taumelt einer von ihnen mit spastischen Bewegungen über die Bühne, fällt immer wieder unkontrolliert zu Boden und verstärkt durch das knallende Geräusch des Mikrophons in seiner Hand die erschreckendere Wirkung, die über die Lautsprecher nachhallt.

Doch es bleibt nicht bei diesen teilweise bedrückenden Bilden. Ein stampfender Beat setzt ein, abwechselnd greifen die Tänzer zum Mikrophon singen Satzfetzen bekannter Popsongs von Madonna bis Ricky Martin hinein, was beim Publikum zu großer Erheiterung führt. Das Ensemble setzt sich in Bewegung und was sie darbieten, ist der Einblick in eine Großraumdisko am Samstag Abend irgendwo in Deutschland. Ungelenke Bewegungen mit pseudo-coolem Gesichtsausdruck und irgendwie immer neben dem Takt. Platels Tänzer haben offensichtlich gut beobachtet und setzten die lächerlichen Bewegungen von Großstädtern auf der Tanzfläche überspitzt und herrlich komisch um. Plötzlich wirken die „behinderten“ Bewegungen im Vergleich gar nicht mehr so fremd. Auch diese Bewegungen erinnern eher an spastische Zuckungen als an schönen Tanz. Die hier vorgeführte Bewegungsstudie bringt die Erkenntnis mit sich, dass sich auch die „normalen“ Menschen ab und zu abnormal bewegen. Und das geschieht eben nicht mit erhobenem Zeigefinger, sondern mit wundervoller Komik.

Am Ende kippt die heitere Stimmung noch einmal kurz. Ein Tänzer bittet das Publikum die rechte Hand zu heben und fragt anschließend „Who wants to dance with me?“ Den Lacher hat er auf seiner Seite, aber nachdem – natürlich – keiner zu ihm auf die Bühne steigt und er schweigend und traurig minutenlang in den Saal starrt, kehrt die leicht beklemmende Stimmung wieder. Am Ende erhebt sich doch noch ein vermutlich Eingeweihter aus der zweiten Reihe und dreht eng umschlungen ein paar Runden mit ihm zu „Nothing compares to you“, bevor alle Tänzer wieder ihre Kleider anziehen, die roten Decken zusammenfalten und die Bühne verlassen, ohne sich noch einmal umzusehen.

Für sein neues Stück braucht Alain Platel kein Bühnenbild, keine Kostüme, nur die Körper seiner Tänzer, die so vielfältig einsetzbar sind und die Einzigartigkeit jedes Menschen aufzeigen. Ein schönes Stück Tanztheater, das der Choreograph Pina Bausch gewidmet hat.

Das Festival „Tanz Bremen“ geht noch bis zum 17. April 2010 
www.tanz-bremen.de
„Out of Context – for Pina“ ist noch in folgenden deutschen Städten zu sehen: Düsseldorf, tanzhaus nrw, 23., 24. April Ludwigsburg, Forum am Schlosspark, 1., 2. Juli Bregenz, Festspielhaus, 13., 14. August Hamburg, Kampnagel 16. - 18. August Frankfurt, Künstlerhaus Mousonturm, 20., 21. August Hannover, Orangerie, 10., 11. September Leipzig, Centraltheater, 2., 3. November Berlin, Hebbel am Ufer, 5. - 7. November

Kommentare

Noch keine Beiträge

Ähnliche Artikel

basierend auf den Schlüsselwörtern