„Henry Michaux: Mouvements“ von Marie Chouinard.

„Henry Michaux: Mouvements“ von Marie Chouinard.

Wirbelnder Frühling

Die Compagnie Marie Chouinard eröffnet das diesjährige „Tanz Bremen“

Mit kaum enden wollendem, enthusiastischem Applaus feierte das Publikum den Festivalauftakt. Zum 20-jährigen Jubiläum tanzte die kanadische Compagnie Marie Chouinard „Le Sacre du printemps“ und „Henry Michaux: Mouvements“.

Bremen, 21/03/2017

Mit kaum enden wollendem, enthusiastischem Applaus feierte das Publikum den Festivalauftakt von „Tanz Bremen“. Zum 20-jährigen Jubiläum tanzte die renommierte kanadische Compagnie Marie Chouinard „Le Sacre du printemps“ und „Henry Michaux: Mouvements“ und begeisterte mit choreografischem Ideenreichtum wie tänzerischer Perfektion und unbändiger Energie.

Igor Stravinsky's „Le Sacre du printemps“, choreografiert von Vaslav Nijinsky war bei seiner Uraufführung 1913 in Paris ein Ballettskandal und wurde dann zum Schlüsselwerk der Moderne des 20. Jahrhunderts. Stravinsky wollte mit seinem Werk nach eigenen Aussagen die Auferstehung der Natur schildern, die zu neuem Leben erweckt wird. In der Vision einer heidnischen Feier schauen alte „weise Männer“ dem Todestanz eines jungen Mädchens zu, das dem Gott des Frühlings geopfert werden soll, um ihn günstig zu stimmen. Kein Stoff der Tanzgeschichte wurde so oft von Choreografen neu interpretiert. Zu ihnen gehören beispielsweise Mary Wigman: 1957, Maurice Bejart: 1959, Pina Bausch: 1975 oder Sasha Waltz: 2013. Doch in jeder Choreografie blieb es dabei, einen Einzelnen innerhalb der Masse zu opfern.

Marie Chouinard dagegen interpretierte 1993 diese Hymne an das Leben völlig neu. In ihrer Version steht weder die Geschichte noch die Gruppe oder ein Opfer im Mittelpunkt. Stattdessen geschieht zu der Originalmusik von Stravinsky beinahe alles gleichzeitig. „Es ist, als ob ich mit dem Augenblick spielen würde, in dem das Leben zum ersten Mal auftaucht“, sagt die Choreografin selbst. „Die Performance ist die Enthüllung dieses einzigartigen Moments.“

Und genau das zeigt die Compagnie Marie Chouinard auch heute noch – über zwanzig Jahre später - im komplett ausverkauften Großen Haus des Bremer Theaters. Zuerst ist da nur Schwarz auf der Bühne. Die Musik beginnt und in einem Lichtkegel bewegt sich im schnellen Rhythmus ein Tänzer wie ein Wesen aus einer anderen Welt. In einem zweiten Lichtkegel tanzt plötzlich eine Frau. Und dann tauchen in immer mehr Spots Gestalten auf und verschwinden genauso schnell mit dem wechselnden Licht.

Sie sind alle, bis auf ihre Slips, nackt und erinnern in ihren schnellen, ungewöhnlichen, zuweilen komischen und skurrilen Bewegungen und Sprüngen an Gnome, Waldtiere, Insekten oder Schattengestalten. Sie tanzen diese Figuren in auffallend zahlreichen Solos, dann auch in Duos und in Gruppen. Mal agieren sie wie Comic- oder Kasperlefiguren, die im nächsten Moment zu Sumoringern oder Einhörnern werden. Dann erscheinen sie in Gruppen wie Krabben oder verwandeln sich genauso schnell in verrückte Algengebilde oder in eine Rinderherde. Und all das erzählt sich unglaublich schnell, immer assoziativ und in einer höchst überraschenden Bewegungssprache. Chouinards „Le sacre du printemps“ ist wie viele kurze Blicke in die Entstehung des Wunders Leben. Und das alles ist so umfassend wie schlicht und aus einem Guss. Dieses Meisterwerk berührt nicht nur; es ist atemberaubend!

Und auch der zweite Teil des gelungenen Eröffnungsabends von Tanz Bremen ist mit Chouinards „Henri Michaux: Mouvements“ eine bis zuletzt spannende, phantasievolle und assoziative Reise in die Welt der Imagination. Hier lässt die Choreografin ihr Ensemble die abstrakten Tuschezeichnungen des belgischen Künstlers Henri Michaux in Tanz übersetzen.

Michaux publizierte 1951 ein Buch mit 64 Zeichnungen und einem Gedicht. Seite für Seite werden die abstrakten schwarzen Gebilde an eine weiße Leinwand projiziert. Zuerst beginnen einzelne Tänzer und Tänzerinnen, ganz in schwarz gekleidet, mit diesen Gebilden in Dialog zu treten. Sie schauen und versuchen mit ihren Körpern die Formen nachzubilden. Immer mehr Ensemblemitglieder erscheinen auf der Bühne, versuchen sich ebenso, geben sich Hilfestellungen und schon beginnt sich das Spiel vor der oberflächlich strengen Schwarzweiß-Kulisse zu verselbständigen. Dabei lösen sich die Bilder zunehmend von der Vorlage.

Zuerst wirkt es wie der Schlagabtausch in einer Turnhalle. Dann bauen sich verrückte Gebilde aus zwei, drei und immer mehr TänzerInnen auf. Den Rhythmus geben treibende Technoklänge, die, zusammen mit den bewegten Bildern auf der Bühne die Atmosphäre einer Maschinenhalle geben. Doch auch das Technische wird wieder gebrochen. In einigen Gruppenbildern geben die Tänzerinnen und Tänzer plötzlich fremdartige Ur-Laute von sich.

Faszinierend ist, dass die TänzerInnen immer mehr wie Tuschestriche wirken. Und so werden die Zeichnungen zu Tanz und der Tanz wieder zu Zeichnung – ein spannendes Unterfangen im rasenden Tempo mit fremdartigen Figuren und Bewegungen. Man spürt, dass Marie Chouinard nicht nur Choreografin und Tänzerin ist, sondern auch Autorin, Bühnenbildnerin, Lichtdesignerin, Fotografin und Filmemacherin. Ein unvergessliches Erlebnis, was die Compagnie Marie Chouinard dem Bremer Publikum und „Tanz Bremen“ beschert hat.

 

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