Schneewittchen mit der Fluppe

Neues von Gauthier Dance: jetzt choreografieren die Tänzer selbst

Stuttgart, 22/06/2009

Im Grunde ist es eine Art Noverre-Abend für junge Choreografen, mit dem die Tänzer von Gauthier Dance im Stuttgarter Theaterhaus nun ihre eigenen Werke vorstellen. Bedenkt man die Größe der siebenköpfigen Minikompanie, war das Ergebnis von „Out of the Box“ mehr als beachtlich, manche Stücke machten durchaus mehr Eindruck als das Hauptprogramm in den „regulären“ Abenden. Vier von Eric Gauthiers Tänzern ergriffen ihre Chance, dazu kamen zwei Gäste: der Russe Emil Faski, langjähriges Mitglied des Hamburger Balletts, und Annett Göhre, die beim Balletttheater München zu choreografieren begann.

Zu bestaunen gab es vorab wieder einmal das unglaubliche Talent des Kompaniechefs, ein „ernstes Gespräch“ binnen Sekunden in haltloses Gelächter entgleisen zu lassen. Choreografisch hielt sich der Pointen-Virtuose dieses Mal zurück, er beendete den Abend mit einem hoffnungsvollen Antikriegs-Duo zu Musik des Serbokroaten Goran Bregovic. Gauthiers Tänzer aber stellten an diesem Abend einmal mehr ihre formidable Ausdruckskraft unter Beweis und entpuppten sich außerdem als Quell der Kreativität. Die völlig unterschiedlichen, tendenziell eher tanztheatralischen als abstrakten Kreationen reichten von lyrisch-leicht über gesprächig, stachelig, athletisch bis erschreckend. Jede der drei Damen der Kompanie bekam ein Solo auf den Leib choreografiert, in das sich mit all ihrem ganz persönlichen Charisma stürzten.

Annett Göhres tragikomisches „Sieben“ zeigte Lisa May als verlottertes Schneewittchen, das von ihrem Prinzen bei den Zwergen vergessen wurde und nun schimpfend, mit der Fluppe im Mund und schiefem Diadem im Haar, deren Stiefel aufräumen muss. Wunderbar musikalisch choreografiert war „My Prelude“ von Emil Faski für Anja Behrend, eine Miniatur im Stil der Chopin-Stücke von Jerome Robbins, ganz auf den Tanz und die intensive, elegante Interpretin konzentriert. Wie schade, dass sie genau wie Alexis Dupuis-LeBlanc die Kompanie verlässt. Der kanadische Tänzer hatte zu einem alten Jacques-Brel-Chansons ein Solo mit dem Titel „Hérisson“, also „Igel“ choreografiert; das Gegen-die-Wand-Rennen einer Rebellin und Außenseiterin interpretierte Marianne Illig mit vollem Körpereinsatz. Drei männliche Schlafwandler ließ Anja Behrend durch ihre Erinnerungen ans Internat taumeln, vor einem surreal verzerrten Stuhl und einer Filmleinwand, die dem Tanz fast die Schau stahl, denn hier wurden Bilder mit der wirren Logik des Träumenden sozusagen rückwärts gemalt. Rhythmisch-athletisch und weit ausholend mag es Armando Braswell, sein Quartett „On my side“ ließ Männer und Frauen nicht miteinander, sondern als parallele Zwillingspärchen über die Bühne wirbeln. Das eindrücklichste Stück des Abends zeigte Lisa May mit „Ground Effects“: Auf vier Podesten, deren Resonanzböden mit Mikrofonen verstärkt werden, stehen Yuppies in Business-Anzügen und machen die Musik mit ihren Füßen – ein präziser, eiskalter Takt zunächst, der zum bedrohlichen Rhythmus einer tödlichen Maschinerie anschwillt. Der Reihe nach wird jeder nach vorne ins Licht gejagt und ringt sich dort, umhergeworfen durch das unbarmherzige Stampfen, tanzend die Seele aus dem Leib, symbolisiert durch eine rote Feder, eine rote Blume. Eine faszinierende Idee, eindrücklich umgesetzt und das Herzstück des (wie immer) umjubelten Abends.

www.theaterhaus.de

Kommentare

Noch keine Beiträge

Ähnliche Artikel

basierend auf den Schlüsselwörtern