Swan Lakes: Marie Chouinard: "Le chant du cygne -  Le Lac“

Swan Lakes: Marie Chouinard: "Le chant du cygne -  Le Lac“

Schwanengesang der Extra-Avantgarde

Gauthier Dance begeistert mit vier „Swan Lakes“

Mit den Uraufführungen von Marie Chouinard, Marco Goecke, Hofesh Shechter und Cayetano Soto präsentiert das Theaterhaus Stuttgart ein beeindruckendes und variationsreiches Interpretationsfeld von „Schwanensee“.

Stuttgart, 29/06/2021

„Ich hatte schon immer vor, Schwanensee für eine moderne Tanz-Kompanie zu machen, konnte mich aber nicht für einen Choreografen entscheiden“, erläutert Eric Gauthier sein Vorhaben dem Premierenpublikum. Für „Swan Lakes“ (mit Plural „s“) konnte Gauthier seine Kolleg*innen Marco Goecke, den Israeli Hofesh Shechter, den Spanier Cayetano Soto und die Kanadierin Marie Chouinard gewinnen.

Vier Uraufführungen, die unterschiedlicher nicht sein könnten, begeisterten das Premierenpublikum, nicht zuletzt dank der superben Qualität und ausgefeilten Technik des Ensembles. Dass der Bezug zum Original – es erzählt die Liebes- und Verwechslungsgeschichte im Spannungsfeld von Gut und Böse – in drei Fällen im Hintergrund bzw. im Dunkeln bleibt, bringt die Wirkung der Ausnahme umso klarer auf den Punkt.

Bravos gab es für Marie Chouinard, die als Kanadierin für Gauthier ein Stück Tanzheimat repräsentiert und die er als „Extra-Avantgarde“ ankündigte. Dem Ruf wird sie mit „Le Chant du Cygne: Le Lac“ mehr als gerecht. Bildstark beginnt dieser Schwanengesang mit der Projektion eines Flammenmeeres, durch das die acht Tänzerinnen ziehen. Die Feuersbrunst, zum Teil in Slow Motion, verwandelt sich im Laufe des Stückes in Wasser.

Am Tutu – ohne Federn – sind die verzauberten Mädchen als Schwäne erkennbar, ebenso an ihren Spitzenschuhen. Doch ist bei Chouinard nicht nur die Natur aus der wohltemperierten Balance geraten, zur elektro-akustischen Komposition von Louis Dufort gleiten die Tänzerinnen nicht sanft über die Bühne, sie humpeln und hinken mit nur einem Spitzenschuh am Fuß. Der andere wird als Handschuh getragen, erinnert am hochgereckten schlanken Arm an Kopf und Schnabel des Vogels, aber auch an einen Fäustling. Mit ihren struwweligen, weißen Kurzhaarperücken gleichen die Tänzerinnen eher gerupften Hühnern als stolzen Schwänen. Streckenweiße reißen sie ihre Münder auf – zu einem stummen Schrei à la Edvard Munch.

Die Choreografin Chouinard zeichnet auch für Licht-, Bühnen-, Video- und Kostümdesign. Bekannt für die virtuose Kombinatorik gelingen ihr assoziativ sowohl Lichtblicke als auch Stolperfallen. Am Ende räumt Chouinard diese mit der latenten Erotik des Originals auf: Ein abrupter Lichtwechsel ist das Signal für die die Tänzerinnen, lauthals skandieren sie „Un violador en tu camino“ („Ein Vergewaltiger auf deinem Weg“). Damit das feministische Manifest der chilenischen Widerstandskämpferinnen, das mittlerweile den Globus umrundet, auch hier verstanden wird, ist der Text schwarz auf weiß zu lesen: „Femizid! Straffreiheit für meinen Mörder! Das Verschwinden! Die Vergewaltigung! Und es war nicht meine Schuld, wo ich war oder was ich trug! Die Bullen, die Richter, der Staat, der Präsident! Unser Staat ist machohaft, unterdrückt und vergewaltigt! Der Vergewaltiger warst du! Der Vergewaltiger bist du!“.

Weit weniger explizit sind die Stücke der Herren. Zum Gesang von Björk lässt Marco Goecke in „Shara nur“ stimmungsvoll eine Nebelwolke aufsteigen. Aus dem Dunst erscheinen vereinzelt Tänzer, später Tänzerinnen. Trotz fragmentierter Bewegungen, viel Arme, Kopf und Rumpf, entwickelt die Choreografie aus hechelnden, schrägen Vögeln einen faszinierenden Flow. Unterbrochen von kleinen Gags – wirbelt da ein Virus über die Bühne oder ist das kleine Glitzerding, das ein Tänzer in der Hand zerdrückt, ein Origami-Schwänchen gewesen? – bleibt Vieles (gewollt?) rätselhaft, darunter auch der Titel. Dank Internet kann man erfahren, „Shara nur“ bedeutet nicht etwa Schwarzer Schwan, sondern „Gelber See“. Das Gewässer liegt auf der Insel Olchon im Baikalsee, ist stark mineralhaltig und soll heilend wirken. Eine Besonderheit des Wassers: Wer darin schwimmt, dessen Haut färbt sich rot. Ob das der Grund für die altrosa-farbigen Blusen ist, bleibt offen.

Dennoch überrascht dieser Goecke, er scheint freier und setzt auf Ironie und Humor in homöopathischen Dosen. Auch sein typisches Zucken und Zittern bekommt im Kontext von Schwanensee eine neue Semantik, lässt an Milben im Gefieder denken.

Gemäß dem Wortspiel „Swan Cake“ geht es bei Hofesh Shechter bunt wie auf einer Geburtstagsparty zu. Dramatisch die Lichtgestaltung mit Strahlern von weit oben. Orientalisch folkloristisch ist die Musik, sind die individuell gestalteten Kostüme im Casual Look. Das achtköpfige Ensemble klatscht rhythmisch, bis das Publikum mitmacht, um dann in einer choreografisch ausgefuchsten Melange aus streng kontrollierten Abläufen und ausgelassener Tanzlaune Geselligkeit zu suggerieren. Ein echter Rausschmeißer.

Er steht im Gegensatz zum düsteren Auftakt. Cayetano Soto hatte in „Untitled for 7 Dancers“ die sieben Tänzer*innen schwarz vor schwarz präsentiert. Geschmeidig wie Raubkatzen sind ihre extrem ausformulierten Bewegungen in schwarzen Langarm-Bodys über weite Strecken wegen des blendenden Gegenlichts leider nicht zu sehen. Skulpturale Körperlichkeit, Präsenz der Mitwirkenden, der feine Glitzerstaub auf den Kostümen der Damen und vor allem der rauchig rohe Sound des Cellisten und Komponisten Peter Gregson wären ohne das fragwürdige Lichtdesign besser zur Geltung gekommen. Die Bühne ist leer. Der Timecodes zeigt die letzten zehn Sekunden: Finaler Countdown. Im Vibrato des letzten Cellotons schwingt viel Kolophonium mit. Das Baumharz ist auch das Wundermittel, mit dem sich Odile, der schwarze Schwan, für seine 32 Fouettés präpariert. Einer der technisch virtuosesten Momente der Ballettgeschichte.

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