Tradition ist keine starre Sache, sie kann sich mit Neuem verbinden

Ein Besuch bei Nikolaj Hübbe, künstlerischer Direktor des Königlichen Ballettes Kopenhagen

Kopenhagen, 20/08/2009

Es muss eine funkelnde und klingende Kulturdiplomatie gewesen sein, die die politischen Allianzen zwischen dem Dänischen Königreich und dem Sächsischen Kurfürstentum über Jahrhunderte begleitete. Die dänisch-sächsischen Verbindungen beginnen 1584 bei der Hochzeit des späteren sächsischen Kurfürsten Herzog August mit der dänischen Prinzessin Anna. Drei weitere Hochzeiten sollten folgen, Anlässe für glanzvolle Feste mit Musik und Tanz, ausgerichtet von so bedeutenden Künstlern wie dem in Dresden wirkenden Italiener Giovanni Maria Nosseni oder dem berühmten Heinrich Schütz. Geschenke gingen zwischen den hohen Häusern hin und her. Vor 300 Jahren, im Juni 1709, besuchte König Frederik II. von Dänemark in Dresden seinen sächsischen Kollegen August den Starken. Für vier Wochen verwandelt sich die Stadt in einen sommerlichen Festsaal unter freiem Himmel. Zwei der mächtigsten Männer Europas feierten sich gegenseitig, August der Starke trug im Triumphzug der Götter die von Dingliner geschaffene Sonnenmaske des Apoll und Dänemarks König präsentierte sich in seinem Karussell der vier Weltteile als Mächtigster der Europäer.

Jetzt erinnern eine Ausstellung im Dresdner Residenzschloss, ein Konzert mit dem Danish National Symphony Orchestra in der Frauenkirche und ein Gastspiel des Königlichen Balletts Kopenhagen in der Semperoper an diese Epochen, in denen sich Macht und Liebe und Kunst verbündeten. Königin Margrethe II. von Dänemark besucht Dresden aus diesem Anlass mit ihrer Schwester Prinzessin Benedikte, sie eröffnet die Ausstellung „Mit Fortuna übers Meer. Sachsen und Dänemark – Ehen und Allianzen im Spiegel der Kunst (1548 – 1709)“ und besucht eine Aufführung des Balletts „Giselle“. Die Neueinstudierung dieses Klassikers nach Coralli und Perrot war, zusammen mit Sorella Englund, die erste Arbeit von Nikolaj Hübbe in seiner neuen Funktion als künstlerischer Direktor des Königlichen Balletts, die er mit Beginn der Saison 2008/2009 übernahm. Am Ende der Saison, bei einem Besuch in Kopenhagen, hatte ich aus Anlass des bevorstehenden Gastspiels Gelegenheit zu einem Gespräch mit Nikolaj Hübbe.

Wir trafen uns im beeindruckend und funktional gestalteten Dachgeschoss im historischen Gebäude der Ballettverwaltung neben dem Königlichen Theater in der August-Bournonville-Passage. Wo sonst. Hier also ist das berühmte Königliche Ballett mit seiner fast 250-jährigen Tradition, seinen 95 Tänzerinnen und Tänzern und der bedeutenden, 1771 gegründeten Ballettschule zu Hause. Das Ballett hat, von den sommerlichen Auftritten abgesehen, in Kopenhagen drei höchst attraktive Spielstätten: das neue Opernhaus von 2005 und dazu das drei Jahre später eröffnete neue Schauspielhaus, seine ursprüngliche Heimat aber ist das Königliche Theater von 1874. Auf dieser Bühne, so erzählt er mir, machte auch Nikolaj Hübbe seine ersten Schritte, Drehungen und Sprünge.

An der Ballettschule hat der 1967 in Kopenhagen Geborene studiert, seit 1984 gehörte er dem Ensemble an. In jenem Jahr, das weiß ich noch ganz gut, war das Königliche Ballett anlässlich der Musikfestspiele zu Gast in Dresden. Die Semperoper wurde erst ein Jahr später wieder eröffnet. „La Sylphide“ und den dritten Akt aus „Napoli“ gab es auf der Bühne des damaligen Großen Hauses, dem heutigen Schauspielhaus am Zwinger. Wir waren angetan von der Bedeutung des männlichen Tanzes in der romantischen Geschichte. Arne Villumsen tanzte die Partie des James und Lis Jeppesen, deren berührende Sterbeszene als Sylphide in der Erinnerung bleibt, gab das wundersam geflügelte Wesen. Vier Jahre später schon wird Nikolaj Hübbe selbst ein faszinierender James sein und 1988 zum ersten Solist der Kopenhagener Kompanie befördert. Mit Lis Jeppesen in der weiblichen Hauptrolle und Sorella Englund als Magde ist seine Interpretation aus diesem Jahr auf DVD dokumentiert.

Nach acht Jahren verlässt Hübbe Kopenhagen, gründlich vertraut mit dem Stil des Hausgottes Bournonville (sorgsam dokumentiert durch den 1952 im Altern von 91 Jahren gestorbenen Hans Beck) und auch mit internationalen Einflüssen, denen sich das Ensemble mit Beginn der 50er Jahre öffnete. Die großen Choreografen und Pädagogen kamen, Wolkowa, Balanchine, Petit, Cullberg, Robbins, MacMillan oder Ashton. Später wurde sogar die reine klassische Linie unterbrochen, Flemming Flindt, Balletmeister von 1966 bis 1978, führte neue und gänzlich ungewöhnliche Strömungen ein, so wurde zum Beispiel nackt zu Beat-Rhythmen getanzt. Immer wieder sollte sichtbar werden, dass diese Kompanie mehr bieten kann als nur Bournonville, besonders durch Henning Kronstam, Ballettchef in Kopenhagen bis 1978, unter dessen Leitung 1979 das erste Bournonville-Festival aus Anlass des 100. Todestages ein internationales Ereignis wird.

Bournonvilles Bedeutung, so zeigt sich immer stärker, ist ungebrochen, aber sie strahlt in umso hellerem Licht, wenn sie mit neuen und anderen Formen des Balletts korrespondiert. Neumeier, Tetley, von Manen oder van Dantzig werden als Choreografen verpflichtet. Jetzt, nach zwei Amtszeiten von Frank Andersen, der die Bournonville-Sommer-Akademie kreierte, steht auch Nikolaj Hübbe vor der Herausforderung, Tradition und zeitgemäßen Anspruch zu verbinden. Die Voraussetzungen bringt er mit. Denn von Kopenhagen ging er nach New York, wurde Principal Dancer beim New York City Ballet und tanzt in 17 Jahren dessen gesamtes, ihm bislang weniger geläufiges, aber ganz und gar nicht fremd erscheinendes Repertoire. Er war in allen wichtigen Balanchine-Balletten zu sehen und wurde für etliche Zeit der Apollo schlechthin in Balanchines richtungsweisender Choreografie „Apollon Musagète“.

Noch heute ist er erstaunt, was da in ihm war, was in dieser anders geprägten Stadt mit ihren Einflüssen in ihm geweckt wurde. Als Prinz verließ er Kopenhagen, wurde zum Street Boy und jetzt steht er vor der Aufgabe, beides zusammenzubringen, nicht im eigenen Tanz, aber darin, wie er mit den Traditionen umgeht und wie er das Repertoire künftig gestaltet. Das Ballett hat in Dänemark, wo schon vor 150 Jahren die Rente für Tänzer eingeführt werden konnte, hohe Akzeptanz, die riskiert man nicht leichtfertig durch unsinnige Experimente.
Dennoch, jetzt will er amerikanische Erfahrungen mit den Wurzeln seiner dänischen Traditionen verbinden. Diese Wurzeln haben einen Namen: August Bournonville, dänischer Tänzer, Choreograf und Ballettmeister, der von 1805 bis 1879 lebte und es verstand, die Tanzbühne mit prallem Leben zu füllen. Französische und italienische Einflüsse hat er verbunden, den Männern verhalf er zur Gleichberechtigung auf der Ballettbühne, die Kunst der Pantomime verwob er elegant in lebensvolle Handlungsballette, die ob ihrer flinken Füße und federleicht wirkenden Sprungvarianten knapp überm Boden so beliebt wie gefürchtet sind.

Traditionell wird auch das Gastspiel in der Semperoper, 25 Jahre nach dem ersten Auftritt, den Klassiker „Giselle“ präsentieren. Ja, das möchte er gerne so zeigen, sagt Nikolaj Hübbe, dieses Kolorit dänischer Romantik mit den Traditionen der Pantomime im ersten und der spirituelle Melancholie des Tanzes in seiner abstrakten Form des weißen Bildes im zweiten Teil des Stücks, wenn der Tanz sich selbst tanze. Programmatisch wird die erste Ballettpremiere der neuen Saison zu Hause Jerome Robbins mit seinen Choreografien „West Side Story Suite“ und „Dances at a Gathering“ gewidmet sein. Besonders gespannt darf man sein, wenn Hübbe in einer Neuproduktion Bournonvilles „Napoli“ auffrischen wird, das dänische Ballettheiligtum seit der Uraufführung 1842, deren romantischer Stil bisher gepflegt wurde.

Die rührende Geschichte um Liebe, Verwechslung und ein Wunder der Heiligen Jungfrau wird erstmals, inspiriert von Bildern aus Fellini-Filmen, in das Neapel der 50er Jahre verlegt, zu Petticoat und Tarantella. Geplant sind auch die Uraufführung eines Balletts des 33-jährigen Schweden Pontus Lidberg und unter dem Übertitel „Man/Woman“ an zwei Abenden die Programme „Ballerina“ und „Danseur Noble“. Als einzige klassische Kompanie ist das Königliche Ballett in Kopenhagen konkurrenzlos. Mit Tim Rushton und seinem Danish Dance Theatre gibt es eine gute Zusammenarbeit - zum Glück, sagt Nikolaj Hübbe, denn dem berechtigten Anspruch, die zeitgenössischen Formen des Tanzes zu präsentieren, wie es Rushton und seine Kompanie machen, kann er nicht in erforderlichem Maß nachkommen. Für Hübbe ist es wichtig, zwischen Achtung der Traditionen und starrem Traditionalismus zu unterscheiden. Letzterer wäre nicht im Sinne der Geschichte des Königlichen Balletts, dessen unwahrscheinlicher Erfolg ja nicht zuletzt darauf beruht, dass es immer wieder gelungen ist, seine Geschichten, Techniken und Choreografien durch Künstler in ihrem aktuellen Erfahrungshorizont zu interpretieren. Link: www.kglteater.dk

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