Auf gleicher Höhe

Martin Schläpfers „Kunst der Fuge“ beim Ballett am Rhein

Duisburg, 08/12/2009

Es ist eben keines dieser konzertanten, abstrakten Ballette im neoklassischen Stil, wie man sie sonst gerne zu den Goldbergvariationen, den Orchesterkonzerten, den Cello- oder Violin-Sonaten des Thomaskantors sieht, kein „Concerto Barocco“ und keine „Suite of Dances“. Für sein bis dato einziges abendfüllendes Ballett nahm sich Martin Schläpfer im Jahr 2002 die Freiheit, Bach auf gleicher Höhe zu begegnen, sich nicht sklavisch dem Diktat der reinen Form unterzuordnen, sondern der Musik den Tanz als eigene Größe gegenüberzustellen. Sein Ballett, das jetzt beim Ballett am Rhein im Duisburger Theater neu einstudiert wurde, ist keine formale Abbildung der fast mathematisch konstruierten Noten, sondern eine tanztheatralische Interpretation; die Musik ist nicht die Herrscherin des Abends, sondern Choreografie und Musik ergänzen sich auf höchst eigenwillige Weise zu einem nachdenklichen, manchmal rätselhaften Theater der Bilder und Gedanken.

Getanzt wird auf Spitze, in Schläppchen, barfuß oder auf halsbrecherischen High Heels. Es wird außerdem gesprochen (und das japanisch), wir sehen eine Modenschau, Anklänge fernöstlichen Theaters, Paarbeziehungen jeder Art, Assoziationen von Freundschaft, Suche oder Einsamkeit. Nicht einmal die Musik erklingt in einer durchgehenden Interpretation, sondern Schläpfer verwendet Aufnahmen des Werkes für Cembalo, Streichquartett, Blockflötenquartett, Saxofonquartett oder Klavier. Was völlig legitim ist, da die unvollendet gebliebene „Kunst der Fuge“ nicht für ein bestimmtes Instrument notiert wurde. Auf Thomas Zieglers schwarzem, weitem Rundhorizont leuchten breite, tupfig ausgefranste Streifen in den Elementarfarben Blau, Rot und Gelb, zuweilen werden sie so fahl, dass sie im Schwarz verschwinden. Rechts und links gibt es zwei Türöffnungen und hinten eine kleine Bank, als wären wir in einem abgeschlossenen Garten oder Klosterinnenhof. Ein Ort zum Denken ist es, ein Wartesaal auch und eine Reisestation, eine Show-Bühne und ein Spielplatz. Zwischen den assoziativen Episoden und den reinen Tänzen gibt es feststehende Charaktere, die sich durch den ganzen Abend ziehen, sie wurden und werden wie viele Szenen dieses Balletts von den starken Tänzerpersönlichkeiten geprägt, die sie kreiert haben (sechs sind aus der Originalbesetzung noch dabei, statt zehn und zehn sind es nun elf Frauen und neun Männer, fast alle von ihnen stammen aus Schläpfers Mainzer Ensemble).

Da ist der nächtliche Philosoph im dunklen Spitzenmantel, der manchmal zur Diva mutiert, oder ein Virtuose, der sich mit seinen Freunden lustvolle Sprungduelle liefert und doch wie eine rätselhafte Sphinx auf der Bank sitzt. Da ist die sinnliche Geheimnisvolle, die Aufgeregte, der Verzweifelte; oft treten sie untereinander in Kontakt – der zweite Teil ist den Duetten gewidmet – und bleiben doch einzelne, in sich ruhende oder an sich leidende Individuen. Diejenige, die das Geheimnis des Stücks wahrscheinlich kennt, ist die weiß geschminkte Yuko Kato, eine Art kindliche Schamanin, die anfangs so hohe Sätze über den Kopf ihres Partners hinaus macht, als wollte sie ins Blau des Rundhorizonts hineintauchen. Schläpfers „Kunst der Fuge“ sträubt sich gegen jeden Tanz-Purismus. Er setzt der strengen, mathematisch klaren Musik ein assoziatives Kaleidoskop von Tanzstilen, Bildern, aufblitzenden Zitaten und Gedanken gegenüber, spiegelt das Chaos der Menschenwelt an der strengen Ordnung dieser Komposition. Wohl gibt es Szenen reinster Neoklassik, wenn sich Tänzer wie davoneilende Fugenstimmen jagen, leicht versetzt und dann wieder exakt zusammen, in Stafetten, Echos und feingliedrigen, leichten Spielereien. Aber eigentlich ist die Neoklassik hier nur zu Gast beim Tanztheater, so umfassend und überraschend ist Schläpfers Vokabular, so bedeutsam sind die Gänge und Blicke, das Warten, das Begegnen. Neigt sich der Stil manchmal zum rein klassischen Ballett oder zu Hans van Manens armewerfender Eleganz, so platzen plötzlich Entenwatscheln und Froschsprünge hinein, dann wieder diese kühl-moderne, das Publikum taxierende Laufsteg-Allüre. Sie zeigt uns nicht nur das ausdrucksvolle, wandlungsfähige Tänzerensemble mit seinen unglaublich starken Persönlichkeiten, sondern auch Catherine Voeffrays elegant-assymetrische, für jeden Tänzer unterschiedliche Kostüme aus schwarzen und crèmefarbenen Spitzenstoffen. Bachs „Kunst der Fuge“ endet mit einem Fragment, im Ballett wird dieses offene Ende zu einer kindlich-erstaunten, wortlosen Frage der weißgesichtigen Weisen.

www.ballettamrhein.de

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