Verfehlte Informationspolitik

Das Stuttgarter Ballett triumphiert in London

oe
Stuttgart, 03/04/2008

Was ist los mit dem Stuttgarter Ballett? Das feiert mit seinem sechstägigen „Romeo und Julia“-Gastspiel in London einen der größten Triumphe seiner Geschichte – und die Stuttgarter Öffentlichkeit erfährt nichts. Oder doch so gut wie nichts – eine einzige kümmerliche Meldung über den erfolgreichen Auftaktabend vom Pressebüro der Stuttgarter, den die beiden Lokalzeitungen dann auch pflichtschuldig weitergegeben haben – aber das war's dann auch schon. Keine weiteren Informationen über die ausgesprochen positiven Kritiken in den Londoner Tageszeitungen (sehr im Gegensatz zu den zurückhaltenden Reaktionen auf das vorausgegangene Gastspiel des New York City Ballet) – nichts auch über die ebenso begeisterten Bilanzen in den Londoner Sonntagszeitungen. Und eine Heimkehr ohne Pauken und Trompeten, wo doch der rote Teppich hätte ausgerollt werden können.

Früher, lang, lang ist's her, begleiteten die Kritiker der beiden Lokalgazetten noch die Stuttgarter auf ihren Tourneen rund um den Erdball und berichteten dann pünktlich am Tag nach der Vorstellung in Edinburgh, London, New York, Moskau und Leningrad über die Aufnahme bei den Gastgebern. Heute kann sich das angeblich keine unserer Zeitungen mehr leisten. Aber wäre es nicht die Aufgabe des Stuttgarter Pressebüros, die hiesigen Zeitungen wenigstens mit Ausschnitten über die kritischen Reaktionen der Medien an den Aufführungsorten zu informieren, die sie dann fallweise nachdrucken könnten? Oder warum beauftragen die hiesigen Zeitungen nicht ihre Auslandskorrespondenten oder ihnen bekannte, beziehungsweise befreundete Kollegen in London, New York oder sonst wo, ihnen zusammenfassend über den Erfolg – oder auch den Nichterfolg – unserer Kompanie zu berichten?

Interesselosigkeit oder Unengagiertheit? Dabei hätten die Stuttgarter wahrlich gestaunt, wenn sie im „Guardian“, in „The Times“, im „Telegraph“. in der „Financial Times“ im „Observer“ oder in der „Sunday Times“ gelesen hätten, wie die Stuttgarter nach 27-jähriger (27!!!) Abwesenheit in London gefeiert wurden. Das Ausmaß dieses Erfolgs überrascht umso mehr, da wir uns hierzulande durchaus nicht so sicher waren, dass die Stuttgarter mit ihrer inzwischen fünfundvierzigjährigen „Romeo und Julia“-Produktion in London, das nun wirklich so ziemlich alle internationalen Kompanien zu sehen bekommen hat, reüssieren würden. Und skeptisch war man auch, wie die Londoner, die ihren MacMillan hoch und heilighalten, auf die Cranko-Version reagieren würden.

Indessen sie taten es, indem sie sehr sorgfältig miteinander verglichen und feststellten, wie sehr MacMillan, der ja während der frühen Stuttgarter „Romeo“-Jahre häufig in Stuttgart gearbeitet hat, die Cranko-Produktion – sagen wir „verinnerlicht“ und in seine Londoner Einstudierung eingebracht hat. Das war ein paar hiesigen Leuten ja auch schon aufgefallen, als sie mit der MacMillan-Version in Karlsruhe konfrontiert wurden. Aber diese – sagen wir MacMillanschen „Anverwandlungen“ von den englischen Kollegen so vorurteilsfrei bestätigt zu sehen, das überrascht denn doch. Und bestätigt nachträglich die neulich von Clive Barnes in New York aufgestellte Behauptung, dass Crankos „Romeo und Julia“ gleich nach Lawrowskys Moskauer Uraufführungsproduktion in der Weltrangliste an zweiter Stelle steht – jedenfalls noch vor MacMillan, dem durchaus die Poesie seiner Pas de deux zugutegehalten wird.

Auch die Tänzer können mehr als zufrieden sein: „Stuttgart´s men are uniformly superb. Friedemann Vogel is an ardent Romeo, whose good looks mask a technique of impeccable elegance and finish … Wünsche responds in kind. Initially rather pallid … you can almost see the sexual flush rising through her body when Vogel first kisses her“ (Luke Jennings im „Observer“), „The production moves at a brisk pace, and an international company dances with zest“ (David Dougill in „The Sunday Times“), „Marcia Haydée remains a marvel on stage: the starkness of Lady Capulet's grief over the corpse of Tybalt recalled that first Bolshoi evening when Yelena Ilyuschenko tore the stage apart as she was carried off on Tybalt's bier. Tremendous art“ (Clement Crisp in „The Financial Times“).

Übrigens hatte ich John Percival, Doyen der englischen Kritiker, eingeladen, im koeglerjournal mit einem Bericht über den Auftaktabend und dann am Schluss mit einer Bilanz der Stuttgarter Vorstellungen zu gastieren. Der hatte auch freudig zugesagt, musste dann aber nach der Premiere direkt ins Krankenhaus gebracht werden. Schade, denn er hatte das Stuttgarter Ballett von seinen Anfängen an begleitet – oft auch in Stuttgart. Unsere Genesungswünsche und Grüße, auch an seine nicht weniger ballettverschworene Frau, senden wir ihm nach London.

Ganz stimmt es freilich nicht, dass die Stuttgarter Zeitungsleser nichts über die Londoner Reaktionen erfahren haben. Die „Esslinger Zeitung“, die sich nicht nur in Sachen Tanz längst als „quality paper“ erwiesen hat, druckte bereits am 28. März einen ersten Bericht – inklusive einem Zitat aus dem „Guardian“, das die Stellen benennt „wo MacMillans Version auf das Niveau eines offensichtlichen Diebstahls herabsinkt.“

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