Und was wäre geschehen, wenn Petipa statt nach St. Petersburg nach Dresden übergesiedelt wäre?

„La Bayadère“ an der Semperoper

oe
Dresden, 08/12/2008

Was Dresden und St. Petersburg miteinander gemein haben? Den geradezu unbändigen Stolz auf ihr international renommiertes Theater, gepaart mit einer geradezu zärtlichen Liebe! Was für die Dresdner ihre Semperoper ist, das ist für die St. Petersburger ihr Mariinsky-Theater. Da aber gehören die Gemeinsamkeiten auch schon auf. Denn an der Elbe tut man sich mit dem Ballett außerordentlich schwer, während der Tanz an der Newa absolute Priorität besitzt (und für viele Ballettfans weltweit die Nummer eins verkörpert). Als Stadt des Tanzes hat Dresden in den Jahren der Weimarer Republik Geschichte gemacht – nicht in der Staatsoper, sondern bei Mary Wigman in der Bautzener Straße. Und alle Ballettanstrengungen nach dem Krieg unter so unterschiedlichen Persönlichkeiten wie Wosien, Schilling, Wandtke, Thoss und ein paar Modernen bis zu Derevianko haben nichts gefruchtet. Die Dresdner betrachten offenbar das Ballett als Knochenbeilage zur Oper.

Ob der jetzt in der dritten Spielzeit an der Semperoper tätige Ballettdirektor Aaron S. Watkin die Wende schafft? Achtunddreißig Jahre alt, mit enormer internationaler Erfahrung, kommt er aus Kanada, dem derzeitigen Weltexportmeister in Sachen Ballett (siehe Andersen in Stuttgart, Chalmer in Leipzig, Beechey an der Palucca-Schule und eben Watkin bei Sempers). Gemeinsam ist ihnen, dass sie alle keine genuinen Choreografen sind, sondern metierkundige Arrangeure, mit Repertoirekenntnissen von den Klassikern über Balanchine bis zu Forsythe. Auf sie setzt auch Watkin in Dresden, und es ist keine Frage, dass ihm die Klassik eine Herzensangelegenheit ist. So hat er nach einer aufwendigen „Dornröschen“-Produktion jetzt als zweiten Abendfüller „La Bayadère“ herausgebracht – Choreografie und Inszenierung Aaron S. Watkin nach Marius Petipa – in der Hoffnung, dass das Publikum langfristig mitzieht, wie in Stuttgart, München, Hamburg und Berlin. Es ist bereits die fünfte deutsche Produktion dieses Superklassikers, denn auch Karlsruhe huldigt bekanntlich inzwischen der indischen Tempeltänzerin. In der vierten Vorstellung allerdings – gewohnt an Stuttgarter, Hamburger, Münchner und Berliner Verhältnisse – blieben auffallend viele Plätze leer, und das trotz sehr positiver Kritiken – und trotz einer sehr ansehbaren kompetenten, im zweiten Teil sogar ausgesprochen stimmungssuggestiv-poetisch getanzten Aufführung, mit kleineren Eingriffen gegenüber Petipa (die durchweg der Handlungsverdeutlichung dienen), aber auch musikalischer Art (zu verdanken dem metiererfahrenen Dirigenten-Profi David Coleman).

Da auch an der Ausstattung (Bühne: Arne Walther, Kostüme: Erik Västhed, Beleuchtung; Bert Dalhuysen) nicht gespart wurde, bestätigt die Dresdner Einstudierung ihren exquisiten künstlerischen Rang. Ja, ich wage es so weit zu gehen, dass die Dresdner „Bayadère“ erstmalig dem architektonischen Rang des Hauses gerecht wird. Eine hübsche Pointe ist, dass die Semperoper nach ihrem Brand etwa zur gleichen Zeit in ihrer traditionellen Form wiederaufgebaut wurde, als Petipa in St. Petersburg seine erste „Bayadère“ herausbrachte. Was zu der Spekulation verlockt, wie anders wohl die Ballettgeschichte verlaufen wäre, wenn Petipa nicht nach St. Petersburg, sondern nach Dresden übergesiedelt wäre.

Das Publikum, anfangs noch ziemlich reserviert und seinen Szenenapplaus sparsam dosierend, erwärmte sich dann allmählich an der sinnlichen Opulenz und Eleganz der Aufführung, die nach der Pause erheblich an dramatischer Schubkraft gewann. Und bestätigte auf diese Weise den schönen Erfolg, den Watkin und seine Equipe, darunter auch ein Stuttgarter Entwicklungshelfer, im Aufbau der Kompanie erzielt haben – mit dem berühmt-berüchtigten „Schattenakt“ in einer Stimmigkeit, die es sehr wohl mit Berlin, Hamburg, München und Wien aufnehmen kann. Auch die Dresdner Solisten könnten schon heute in jeder dieser Produktionen gastieren: die sehr anmutige und zart-ergebene Natalia Sologub als Nikija, die rassig-temperamentvolle Britt Juleen als ihre Rivalin Gamsatti und der zunehmend in Dresden an Virtuosität gewinnende Jiří Bubeníček als Solor. Doch auch ihre Kollegen werfen sich mit Elan in ihre Partien, und hohes Lob muss man Watkin auch für die noble Gestaltung der heiklen pantomimischen Szenen zollen (auch wenn er in der Anlage des Solor-Freundes als permanenter Parkett-Aufwischer in seiner indischen Unterwürfigkeit sicher zu weit geht). Jetzt ist es an dem Publikum zu beweisen, dass an der Semperoper das Ballett die künstlerisch gleichwertige Schwester der Oper ist – die Kompanie selbst hat eine bewundernswerte Vorleistung erbracht.

 

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