Tanz der Traumata

Rachid Ouramdane zeigt “Loin...” bei Tanz im August

Berlin, 19/08/2008

Es gibt im Französischen zwei fundamental unterschiedliche Schreibweisen für „Geschichte”. „Histoire” mit großem H bezeichnet die „große” Weltgeschichte, die offizielle Geschichtsschreibung und auch eine Art in der Zeit wirkendes Schicksal. Die Variante mit kleinem h dagegen, „histoire”, meint Geschichte im Sinne einer narrativen Erzählung oder einer persönlichen Anekdote. Am Schnittpunkt jener beiden Schreibweisen ist Rachid Ouramdanes einstündiges Solostück „Loin...” angesiedelt, das gerade bei Tanz im August seine Deutschlandpremiere erlebte. Bei einem Vietnamaufenthalt sah sich der algerischstämmige Franzose mit der kolonialen Vergangenheit seines Vaters konfrontiert, der als Mitglied der französischen Armee in die Anfänge des Vietnamkonflikts verwickelt war. Dieser identitäre Schock für einen Künstler, der allzu oft auf die Rolle des talentierten Emigrantensohns festgelegt wurde, wird zum Ausgangspunkt einer Reise in die Tiefenschichten politischer und familiärer Traumata.

Drei Monate lang reiste Ouramdane in Begleitung eines Videokünstlers durch Vietnam und interviewte dabei zehn Vertreter seiner eigenen Generation der Mitte-Dreißigjährigen, die sich mit den ungesagten Verletzungen im Leben ihrer Eltern und ihrer eigenen, beschädigten, Identität herumschlagen müssen. Gleichzeitig erlebte er die Auswirkungen der Globalisierung in einem Land, das sich fast nahtlos von der Abhängigkeit von Kolonialmächten in die wirtschaftliche Abhängigkeit international operierender Konzerne begeben hat.

In der aus 23 Stunden Videomaterial entwickelten Arbeit sucht Ouramdane nicht nach Antworten, er stellt noch nicht einmal explizite Fragen, sondern türmt in einer Art multimedialen Vortrags aus verfremdeten Filmschnipseln, poetischen Monologen und installativen Stadt- und Landschaftsansichten politische und psychologische Verwerfungen auf und spürt den Brüchen und Verstümmelungen mit dem eigenen Körper nach.

Ein spiegelartiger Bildschirm, mehrere schwarze, immer wieder in Rotation versetzte, Megaphonlautsprecher, zwei Mikrophone und ein Netz von Kabeln und Fußschaltern bilden das Setting für eine merkwürdig hybride Performance, die immer wieder zwischen Dokumentartheater, einem Abend mit Dias aus den Ferien und melancholisch grundierter Therapiesitzung oszilliert.

Es mag gewollt sein oder nicht, aber oft wirkt Ouramdanes Reise ins „Herz der Finsternis” wie ein tänzerisches Echo auf Coppolas „Apocalypse Now”, das die Demontage des amerikanischen Vietnam-Mythos mit Joseph Conrads tropischem Initiationstrip in die Abgründe des Kolonialismus verschränkte.

Nachdem zu Beginn des Stückes seine Mutter per Videoprojektion von den Gräueln des Algerienkrieges berichtet hat, und davon, wie sich ihr Mann nach der Flucht aus seiner Heimat unversehens im französischen Kolonialheer in Indochina (wie Vietnam damals hieß) wiederfand, liegt der Künstler mehrere Minuten lang am Boden, rollt und wiegt sich langsam embryonal hin und her, als ließe er das Gehörte in seinen Körper eindringen. Wie ein fernes Echo schwingt darin die Anfangssequenz von „Apocalypse now” mit, wo Martin Sheen schwitzend und dem Herzinfarkt nahe auf einem Hotelbett in Saigon unter einem rotierenden Ventilator deliriert.

Dieses Verfahren der körperlichen Reaktion auf Gehörtes und Gesehenes zieht sich durch das ganze Stück. Immer wieder verfällt der Torso des Tänzers in Zuckungen, die Arme fliegen vom Körper weg, die Hände scheinen unsichtbare Feinde abzuwehren und verfallen in Spasmen, die den schmalen Körper schier zerreißen. Dabei ist diese Reaktion niemals unmittelbar auf gesehenes Bildmaterial oder Klänge bezogen. Oft wird sie bewusst unverbunden in den Raum gesetzt, wie um allzu deutliche narrative Bezüge zu zerstören.

Zwar mag das entschieden Fragmentarische dieses Abends der unfassbaren Komplexität seines Gegenstands entsprechen, ein wirklicher künstlerischer Zugriff gelingt Ouramdane dabei nicht. Die eingesetzten Mittel – vom Tanz über die Verwendung dokumentarischen Materials bis hin zur im Halbplayback gesungenen Desillusionshymne der britischen Punkband The Stranglers „No more heroes” – wirken wie die hilflos aufgefahrene Palette zeitgenössischer Aufdrucksformen, die sich tapfer aber letztendlich vergeblich an den Widersprüchen der Geschichte (mit großem und kleinem h) abarbeitet. Zusammengehalten wird „Loin...” durch die physische Präsenz seines Schöpfers, dem das persönliche Anliegen in jeder Faser seines Körpers deutlich anzusehen ist. Letztendlich bleibt das Stück jedoch gerade dadurch kaum mehr als ein verwirrend komplexes, aber allzu privates Reisetagebuch.

Vergleicht man Ouramdanes Stück mit dem Spektakel des britischen Bengalen Akram Khan, der in „Bahok” bei der Festivaleröffnung die Identitäten seiner Tänzer in einem bunten Multikulti-Strudel der Bewegung auflöste und Konflikte dabei bestenfalls anriss, ist „Loin...” die bei weitem ehrlichere Arbeit. Anstatt hoffnungslose Widersprüche in eine harmonische Form zu gießen, macht der Franzose das formale Scheitern zum Programm und liefert damit mehr als bloßes Entertainment.

Link: www.tanzimaugust.de

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