Die Welle reiten
„Contre-nature“ von Rachid Ouramdane und der Compagnie de Chaillot
Eine weiß getünchte Kletterwand und eine Slackline hoch über dem Boden, direkt unter den Scheinwerferbatterien in der K6 der Hamburger Kampnagelfabrik. Ein Video wird auf die Wand projiziert, es zeigt steil abfallende Felswände. Abgründe. Weit in der Ferne ist ein Fluss erkennbar. Wassergeräusche sind zu hören, ein dumpfes Grollen, das in sanft angeschlagene, fast meditative Gitarren- und Synthesizerklänge übergeht (Musik: Jean-Baptiste Julien). Und dann ist da ein schmales Band, eine Slackline, die die eine Felswand mit der anderen verbindet, hunderte von Metern über dem Grund. Darauf ein Mann, nur über ein kurzes Seil gesichert, der barfuß über das nur zwei Zentimeter breite Band balanciert, freihändig. Fuß setzt er vor Fuß, langsam, bedächtig, immer wieder das Gleichgewicht suchend, während die Line unter ihm schwingt. Ein Tanz auf der Highline.
Erklärende Worte spricht er aus dem Off: „Jede Bewegung deines Körpers überträgt sich auf die Line und dann wieder auf dich. Du bist mit Dir selbst konfrontiert. Als ich jung war, hatte ich Höhenangst. Jetzt kann ich in der Luft laufen.“ Es fühle sich an wie fliegen, wenn er auf der Highline läuft. Meist fehle es nur am Selbstvertrauen, wenn man Angst habe, vor der Höhe oder vor irgendetwas anderem.
Die Highline gebe ihm das Selbstvertrauen, mit der Angst fertig zu werden. Dinge zu tun, die noch nie jemand gewagt hat. Zum Beispiel 2240 Meter auf dem schmalen Band zu gehen – vom Festland hinüber zum Mont Saint Michel. 2022 war das. Und ein Weltrekord. Bis heute. Legendär auch, wie er 2021 vom Eiffelturm zum Dach des Théâtre Chaillot spazierte, 70 Meter über dem Boden. 670 Meter waren das. Schon damals spektakulär. Aber long distance walks auf der Highline? Mehrere Kilometer? Dafür wurde er für verrückt erklärt. Unmöglich sei das, hieß es. Zu unberechenbar. Zu gefährlich. Technisch sowieso unmöglich. Für Nathan Paulin ein Antrieb mehr, das Gegenteil unter Beweis zu stellen. „Was ich suche, ist Freiheit“, sagt er. Das treibe ihn an. Dann sei er ganz bei sich.
Und auch, wenn die Situation in der freien Natur nicht vergleichbar ist mit der in der K6, wenn die wenigen Meter über dem Bühnenboden nachgerade ein Witz sind gegenüber den felsigen Abgründen der Alpen oder der Einsamkeit über dem Atlantik vor der französischen Küste, so bleibt doch die Faszination dieses Wagemuts, der Respekt vor der unglaublichen Balance, die dieser Mann aufzubringen in der Lage ist. Sie schlägt das Publikum sofort in Bann, wenn Nathan Paulin sich jetzt über eben dieses schwingende Band vorantastet, als Bestandteil der 2021 entstandenen „Corps extrêmes“ von Rachid Ouramdane, dem Direktor des Pariser Chaillot – Théâtre National de la Danse, das er mit seiner Compagnie de Chaillot jetzt auf Kampnagel zeigte.
Dialog zwischen Himmel und Erde
Die neun Tänzer*innen tauchen nach dem Film über und mit Nathan Paulin ganz plötzlich aus dem Nichts auf, schlagartig stehen sie oben auf der Kletterwand. Und jetzt beginnt ein Dialog zwischen Himmel und Erde, zwischen dem Hochseil-Künstler und den Menschen am Boden und in der Wand. Sie laufen die Wand hoch und lassen sich fallen, weich abgefedert von den Händen ihrer Kolleg*innen. Ein wildes Auf und Ab, immer wieder fegen sie mit hohem Tempo über die Bühne, steigen aufeinander, fliegen durch die Luft, schlagen Saltos. Es ist eine atemberaubend rasante Choreografie. Nathan Paulin bestaunt sie manchmal nur still von oben, manchmal mischt er sich aber auch ein. Zu dritt stehen die Tänzer*innen übereinander, fast erreichen die ausgestreckten Hände den auf dem Seil liegenden Paulin, um sie dann doch zu verfehlen.
Hin und wieder spiegeln sich die Bewegungen – was Paulin auf dem Seil macht, ahmen die Tänzer*innen auf der Erde nach. Flüchtig nur ist er, dieser Gleichklang, um sich dann wieder aufzulösen in Laufen, Rennen, Schwingen, Fallen, Fliegen, Halten. Eine artistische Körperbeherrschung, die einem den Atem stocken lässt.
Bis eine der Tänzerinnen allein auf der Bühne liegenbleibt. Und aus dem Off erzählt, wie sie doch einmal den Halt verloren hat und gestürzt ist, einen ihrer Kollegen dabei schwer verletzt hat mit ihrem fallenden Gewicht, aber selbst unbeschadet blieb. Es ist dieser Bruch mit der spektakulären akrobatischen Perfektion, die dem Stück eine zusätzliche, ehrliche Dimension verleiht, unerwartet, berührend. Weil man merkt, dass all diese Körperbeherrschung auch ihre Schattenseiten hat, dass sie mühsam erkämpft und mit vielen Risiken behaftet ist. Und doch von einer unwiderstehlichen Faszination für die, die sich ihr verschrieben haben.
Ob das Nathan Paulin hoch oben auf dem Seil ist oder die Schweizer Kletterin Nina Caprez, neben ihm die zweite Extremsportlerin, die für dieses Stück in die Compagnie integriert wird. Während sie sich über die Wand hangelt, wird ein weiterer Film darauf projiziert, der sie beim Erklettern einer senkrecht aufsteigenden Felswand zeigt. Auch sie spricht aus dem Off, was sie antreibt, sich diesen Gefahren auszusetzen: „Ich liebe es, mich der Natur zu unterwerfen.“
Und wieder kommen die anderen zu Hilfe, wenn sie sich in die Tiefe fallen lässt (in der Videoprojektion fängt sie ihr Sicherungsseil auf, als sie aus Versehen den Halt verliert, bevor sie sich erneut auf den Weg nach oben macht). Wieder erklimmen sie die Wand auf vielfältige Art und Weise. Es ist ein atmendes Auf und Ab der menschlichen Körper, ein Verbinden und Lösen. Bis sich schließlich Nathan Paulin vom Seil ausklinkt und in die Arme der Tanzenden fallen lässt, eins wird mit ihnen und zu einem Teil von ihnen.
Standing Ovations für einen poetisch-sinnlichen Abend, der noch lange im Gedächtnis bleiben wird.
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