Ein Blick hinter den goldenen Seidenvorhang

Das Intradance-Festival zeigt sieben Koproduktionen zwischen europäischen Choreografen und russischen Kompanien in Moskau

Moskau, 28/05/2010

Eine Kolonne tollkühner Kletter-Junkies seilt sich entlang der glatten Glasfassade eines über 60-stöckigen Gebäudes von Moskau City ab. Das ambitiöse Klein-Dubai im Westen der Stadt soll nach seiner Fertigstellung hauptsächlich als Verwaltungskomplex dienen. Zurzeit strahlt es noch eine gespenstische Leere aus. Vis-à-vis, am anderen Ufer der Moskwa, tobt für vier Tage das Leben. Hier hat sich das Intradance-Festival im Petr-Fomenko-Theater eingemietet. Das Festival hat keine Superlative im Sinn, setzt aber dennoch Maßstäbe.

Vor beinahe drei Jahren hat die Idee für Intradance bei einem Treffen der Leiter des französischen, italienischen, englischen und deutschen Kulturinstituts gezündet. Das Quartett bezeichnet sich in den Worten von Goethe-Institut-Leiter Johannes Ebert dem zeitgenössischen Tanz gegenüber „als professionelle Laien“ und teilt die enthusiastische Ansicht, dass diese Kunstform wie keine andere „ein Melting Pot der interkulturellen Arbeit“ sein könne. Darum ist Intradance nicht als Best-of konzipiert, sondern als eine Präsentation von Projekten, die in der Zusammenarbeit zwischen europäischen Choreografen und russischen Tanzkompanien entstanden. Über hundert Choreografen aus 18 Ländern und über 30 Ensembles haben sich beworben, ausgewählt wurden jeweils sieben.

Das technische Niveau der ausgewählten Kompanien aus Kostroma, Tscheljabinsk, Jekaterinburg, Kirow, St. Petersburg, Kasan und Moskau verdient Bewunderung. Denn zeitgenössische Tänzer arbeiten in Russland im Schatten des übermächtigen, klassischen Balletts – quasi ohne staatliche Unterstützung und Ausbildungsmöglichkeiten. Die meisten der aus der europäischen freien Szene stammenden Choreografen ergreifen wie das israelisch-holländische Duo Uri Ivgi & Johan Greben die Chance, in größeren Formationen temporeichen und artistischen, oft schonungslosen Tanz zu kreieren.

Eröffnet wurde das Festival mit „The Good, The Bad and You“ der Dänin Lotte Sigh und des Panthera Chamber Ballets aus Kasan. Ebenso wie im Abschlussstück „Next in Line“ des Spaniers Asier Zabaleta mit dem Cheljabinsk Contemporary Dance Theater, einer der etabliertesten russischen Gruppen, wird hier auf typische Gender-Konstellationen gesetzt: Frau gegen Mann, Individuum gegen übermächtige Gruppe – einmal aggressiver, einmal poetischer, einmal pauschaler, einmal raffinierter. Beide Stücke treffen den Geschmack des russischen Publikums, für die momentane westliche Ästhetik sind sie jedoch zu überdeutlich in Körperbildern und Botschaft. „Das ist jetzt poetisch, poetisch!“, versucht sich auch der aus Deutschland beteiligte Stückemacher Christoph Winkler zu sagen.

Das Ästhetik-Shifting gelingt besser bei einem Blick in das reale Alltagsleben: Unübersehbare Menschenschwärme werden von den Metroschächten verschluckt und wieder ausgespuckt, der Verkehrslärm ist im gesamten Zentrum Moskaus so laut, dass Unterhaltungen unmöglich sind. „Wer hier von sich selber spricht, grenzt sich von anderen ab“, sagt die Tanzkritikerin der Novaja Gazeta bei einem der Round-Table-Gespräche. Emblematisch dafür die Frau, die im Stück des Portugiesen Victor Hugo Pontes einen Großteil der Zeit samt High-Heels eingepfercht in einem ranzigen Reisekoffer verbringt. Die gigantischen Absätze der Frauen sind vielleicht nicht nur als traditionelles Rollenbild im pseudowestlichen Gewand zu verstehen, sondern als ein gymnastisches Manifest gegen die endlosen Distanzen des sozialistischen Architekturerbes.

Darum ist es konsequent, wenn in den Stücken der Sog des gesellschaftlichen Mainstreams, die Rollenbilder und die High-Heels aufgegriffen oder die langen Haare der Frauen entsprechend feminin als goldener Seidenvorhang inszeniert werden – wie auch in „Mirliflor“ der in Brüssel arbeiteten Französin Karine Ponties, einem der ästhetisch stimmigsten Stücke des Festivals. Ponties hat sich für eine Viererbesetzung mit Tänzern des Dialogue Dance Theaters aus Kostroma entschieden, außerdem für eine minimalistische Szene: Tisch und Stuhl. Der Rollentausch der Dinge wirkt wie aus einem Magritte-Bild ausgeschnitten, die Stimmung liegt irgendwo zwischen Tschechowschem Wartesaal und Tarkowskijs Indizienmysterien. Obwohl die Stimmung und das differenzierte, manchmal grafisch-zeichenhafte Licht eher auf einen traumartigen Zustand verweisen, erreichen die Tänzer in diesem Stück eine im russischen Tanz selten gesehene individuelle Präsens.

Weniger gelungen ist die Stückentwicklung von Victor Hugo Pontes, der mit dem Liquid Theatre Moskau eine für ihn ungewohnt unkonzentrierte und grobe Arbeit zeigt. In „Far away from here“ werden die Schwierigkeiten, die von den Choreografen und Gruppen zu meistern waren, augenfällig: Sprachbarrieren, die kurze Produktionszeit (zwischen vier und acht Wochen), die Probleme, (beheizte) Studios zu finden, unterschiedlichste Inszenierungsvorstellungen.

Der Berliner Christoph Winkler, der wie er selbst sagt, „mit Osterfahrung“ an die Sache heranging, findet dagegen mit dem Petersburger Ed Physical Theater nicht nur eine charakterstarke Besetzung, sondern auch eine stilsichere Methode, seinen eigenen Ansatz mit den Fähigkeiten der Performer humorvoll und unangestrengt zu verbinden. Die Biopic-Portiönchen, die er vor einer als Triptychon aufgebauten, realistischen Straßenbild-Fotografie präsentiert, sind insofern einzigartig, als sie dem Ernst des russischen Tanzanliegens eine gute Prise Witz beigeben – eine Zutat, die sich der algerische Franzose Rachid Ouramdane andererseits konsequent programmatisch versagt. Nicht Träume, sondern vor allem Ängste beherrschen die Mitglieder des Migratsia Projekts aus Kirow, mit dem er arbeitete. Riesige Bärenklau-Stauden dominieren die Filmeinspielung, eine Pflanze, deren junge Blätter essbar sind, die später aber höchst giftig werden. Ein Mahnmal dafür, Träume nicht alt werden zu lassen.

Gerade die Tänzer aus Kirow betonen, wie wichtig diese Arbeit für sie gewesen sei. Die nihilistische Konsequenz Ourandames trifft sich mit der Methode Winklers im Bezug auf den Ausgangspunkt: die Persönlichkeit der Tänzer. Das Intradance-Festival, von der EU mit einer Millionen Euro finanziert und geradlinig und umsichtig organisiert von Elena Tupyseva und Ekaterina Solomina, die als TSEKH-Agentur auch für die russische Tanzplattform verantwortlich zeichnen, zeigte Stärken und Schwächen der Kompanien und Choreografen, Möglichkeiten und Unmöglichkeiten in der Begegnung, Universales und Kontextuelles des Tanzes. Keine Schminke, sondern Ehrlichkeit. „Ich bin stolz, und das verdanke ich den letzten vier Tagen“, feiert Johannes Ebert in seinen persönlichen Abschlussworten.“ Er hat gute Gründe.
 

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