Sorglos mordendes Püppchen

Christian Spucks „Lulu“ mit vielen Rollendebüts

Stuttgart, 04/02/2008

Fröhlich geht es zu in dieser „Monstretragödie“, unheimlich fröhlich. Christian Spucks zweistündiges Ballett beruht auf der Urfassung von Frank Wedekinds diversen „Lulu“-Versionen und steht nun nach dreijähriger Pause wieder auf dem Spielplan des Stuttgarter Balletts. Das Werk überzeugt nach wie vor. Raffiniert wechselt der Choreograf zwischen Entsetzen und fröhlicher Dekadenz, garniert die blutige Abfolge von Morden mit deutlichen Einschlägen von Vaudeville und Operette, lässt die Verführten zu Dmitri Schostakowitschs lasziven Walzern und rasanten Jazzsuiten über die Bühne taumeln. Dazwischen erklingt karge, erschreckende Musik von Arnold Schönberg und Alban Berg, umrahmt wird das Ballett von Nina Simones melancholischem Jazzsong „Wild is the wind“, den nun statt der Gräfin Geschwitz eine Chansonsängerin auf der Empore des Bühnenbilds haucht (Halbsolistin Magdalena Dziegielewska mit toller Stimme).

Wie im Wartesaal sitzen die Liebhaber an Tischen aufgereiht und harren, dass Lulu ihrem Leben einen Sinn gibt. Christian Spucks dichte, spannende Dramaturgie hängt einzig zu Beginn des zweiten Aktes bei der Pariser Gesellschaft etwas durch. Brillant erdacht und choreografiert aber ist zum Beispiel die Schar der zwölf schmierig-gierigen Liebhaber, die im ersten Akt um Lulu herumschwänzeln, irrwitzig die turbulente Hetzjagd über die Tische zur Schostakowitsch-Musik aus „Moskau-Tscherjomuschki“, faszinierend auch der Schluss mit einem wahrhaft beängstigenden Jack the Ripper (Jason Reilly) und der filmischen Großaufnahme von Lulus Gesicht - die Verführerin bleibt für immer eine Projektion, ein geheimnisvolles Bild.

Die Wiederaufnahme, Spucks einzige Aufgabe als Haus-Choreograf in dieser Spielzeit, bringt keine wesentlichen Änderungen am Stück, aber zahlreiche Rollen sind neu besetzt. Beklemmend zeigt Douglas Lee die Fallhöhe des seriösen Dr. Schöning, der durch Lulu alle Moral und alle Fassung verliert. Wirkungsvoll konstrastiert Stefan Stewart die schnellen, wirbelnden Soli des Zuhälters Schigolch mit der Nüchternheit seiner blutigen Leichenschilderungen. Marijn Rademaker, der als einziger von der Premierenbesetzung übrig geblieben ist, entwickelt Schönings Sohn Alwa vom hilfsbereiten Jungen zum verbitterten Liebhaber, blass bleiben dagegen Alexis Oliveira als Maler Schwarz und Damiano Pettenella als Muskelprotz Rodgrio. Während Bridget Breiner, die Urbesetzung der Geschwitz, vor Rodrigos purer animalischer Lust zitterte, scheint Elena Tentschikowa nun eher moralische Bedenken zu haben, so korrekt tanzt sie anfangs und lässt auch später bei aller Leidenschaft die morbide Dekadenz der lesbischen Gräfin vermissen.

Nach Lulu-Urbesetzung Alicia Amatriain hat sich nun auch noch Katja Wünsche verletzt, so kam die kleine, grazile Elizabeth Mason am Freitag zu einem überraschenden Rollendebüt, mit ihrer feinen Lyrik geradezu das Gegenteil zur extrovertierten Amatriain. Auf den ersten Blick wirkt sie zurückhaltend, denn sie tanzt die Bewegungen nicht so extrem ausgeprägt wie Amatriain, sondern sehr leicht, ja schön, mit einer Art kindlichem Huschen. Diese Lulu ist nicht ordinär und auch kaum raffiniert, sondern lebt ihre Sucht nach Liebe so unbedarft wie ein Kind; sie fasziniert nicht allein durch ihren Körper, sondern durch die Unschuld ihres Triebes, weil sie so unreflektiert und amoralisch handelt wie eine spielende Katze. In ihrem letzten Solo, als Lulu schließlich niemanden mehr hat, an den sie sich klammern kann, offenbart Elizabeth Mason dann eine Verlorenheit, die uns in die Seele des sorglos mordenden Püppchens wie in ein schwarzes Loch hineinblicken lässt. Gier nach Liebe oder Gier nach dem Tod: geradezu existenziell ist die Vehemenz, mit der sie sich Jack the Ripper in die Arme wirft, ihrem letzten Liebhaber. Die zarte Amerikanerin, die viel zu lange ein graues Mäuschen im Corps de ballet war, ist eine von Grund auf ehrliche, ungekünstelte Tänzerin; steht zu hoffen, dass Ballettchef Reid Anderson ihr Gelegenheit gibt, dieses wertvolle dramatische Talent weiter zu entwickeln.

Links: www.stuttgart-ballet.de / www.christianspuck.com

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