Neue Besetzungen in Pina Bauschs Orpheus-Tragödie

José Martinez als tragischer Sänger an der Pariser Oper

Paris, 18/02/2008

Es nimmt kaum Wunder, dass Pina Bauschs vor 33 Jahren in Wuppertal uraufgeführte getanzte Oper „Orpheus und Eurydike“ auch drei Jahre nach der Erstaufführung beim Ballet de l’Opéra National de Paris (siehe auch Orpheus-Kritik 2005) nichts an ihrer Faszination verloren hat. Denn in diesem Stück trifft eine Geschichte, die von den universellsten Themen der menschlichen Existenz handelt (Liebe, Tod und Kunst), auf eine Interpretation, die künstlerische Virtuosität mit einem Streben nach Einfachheit verbindet.

Alle Elemente des Stückes spielen zusammen, um diesen Eindruck von Verinnerlichung und Konzentration auf Wesentliches zu erzeugen, die ihm seine spezielle dramatische Dichte verleihen. Besonders prägend ist dabei die Musik Christoph Willibald Glucks, die das Geschehen trägt und beflügelt: Gluck wollte sich von den Tendenzen zu melodiösem Raffinement der italienischen Oper absetzen und innere Vorgänge unmittelbarer ausdrücken. So hört man von Orpheus zu Beginn der Oper keinen Gesang, sondern verzweifelte Schreie nach Eurydike, und auch die Furien antworten zunächst mit wildem Gebrüll auf Orpheus’ Flehen.

Das bare Leiden, die tiefe Trauer, die rohe Gewalt und die elysische Harmonie in Glucks Musik finden ihr Gegenstück in Pina Bauschs Choreografie, die trotz ihrer Klarheit nichts Minimalistisches hat. Fließende, Kreise beschreibende Oberkörper und Arme drücken sowohl Schmerz als auch himmlischen Frieden aus, die Hölle wird charakterisiert durch eckige, schlagende und dumpf fallende Bewegungen, durch erfolglos abgebrochenes Voran- oder Hinaufstreben, durch wütend wirbelnde Spiralen. Rolf Borziks hauptsächlich in Schwarzweiß gehaltene Ausstattung begnügt sich ebenfalls mit wenigen Accessoires: ein entwurzelter Baum und ein gläserner Kasten, hohe Stühle und endlose weiße Schnüre, Blumenbeete, dazu weiche, fließende Kleider und lange Schleier für die Frauen, schwarze Kostüme für die Männer, Schmiedeschürze für den aus einem Tänzertrio bestehenden Höllenhund Zerberus und ein fast nackter Orpheus.

Die besonders enge Symbiose zwischen Musik und Tanz in diesem Stück wird durch die Verdoppelung der Hauptfiguren Orpheus, Eurydike und Amor sichtbar gemacht, die jeweils durch einen Tänzer und einen Sänger dargestellt werden. Die Sänger, deren Bewegungen Pina Bausch ebenso sorgfältig choreographiert hat wie die der Tänzer, agieren dabei durchaus auch in der tänzerischen Sphäre: so bleibt der Tänzer Orpheus beispielsweise am Anfang und am Ende des Stückes vollkommen immobil, während seine Stimme lebt und sein grenzenloses Leiden über den zweimaligen Verlust seiner Gattin ausdrückt. Und so ist es am Ende auch seine Stimme, die Eurydikes tote Hülle zum letzten Mal umarmt, während der körperliche Orpheus weitab von ihr zugrunde geht.

Wie bereits vor drei Jahren brillierten sowohl das Balthasar-Neumann Ensemble unter der Leitung von Thomas Hengelbrock als auch die weitgehend aus der Erstaufführung übernommenen Tänzer des Corps de Ballet der Pariser Oper – im exzellent besetzten Corps machten sich wieder zahlreiche Tänzerpersönlichkeiten wie Eleonora Abbagnato, Miteki Kudo, Sébastien Bertaud oder die neuen Solistinnen Muriel Zusperreguy und Eve Grinsztajn bemerkbar. Auch die Solistenrollen waren größtenteils mit Tänzern der Erstaufführung besetzt, wobei die interessanteste Ausnahme José Martinez war, der an diesem Abend als Orpheus debütierte. Begleitet von der Mezzosopranistin Maria Riccarda Wesseling, gab er einen beeindruckenden Orpheus von höchster physischer Präsenz, der allerdings nie wirklich Hoffnung zu schöpfen scheint. Sein schönliniger Tanz ist fast in keinem Moment vollkommen von pulsierender Lebensenergie erfüllt; er scheint dem Tod von Anfang an anheimgegeben. Dennoch ist er in seiner Rebellion, in seiner Weigerung, den Gang des Schicksals zu akzeptieren, isoliert von seiner Umwelt und Eurydike, mit der er nur einen Augenblick vereint sein kann.

Alice Renavand als Eurydike (Gesang: Julia Kleiter) zeichnet sich durch die Fluidität ihrer Bewegungen aus, und anders als ihre Vorgängerinnen in dieser Rolle bleibt sie durch das gesamte Stück hindurch Schatten, der nie ganz in die menschliche Gefühlswelt zurückkehrt. Charlotte Ransons Amor (Gesang: Sunhae Im) ist ganz flüchtiger Hoffnungsschimmer, an den Orpheus nicht lange zu glauben vermag: Schon vor seinem Abstieg in die Unterwelt ahnt er, dass er die Bedingung der Götter nicht erfüllen kann. Mit seinem Tod, der entgegen des Mythos in stiller Einsamkeit erfolgt, schließt sich der Kreis des Stückes, dessen ritueller, der griechischen Tragödie angenäherter Duktus den von Gluck nachträglich hinzugefügten glücklichen Schluss nicht duldet. Orpheus’ Stimme indes überlebt sogar sein physisches Verschwinden: Noch ganz zum Schluss, als die Trauernden wie zu Anfang um Eurydike klagen, hört man Orpheus verzweifelt nach seiner Gattin rufen. Vielleicht könnte man sich überlegen, wie in der ARTE-Fernsehübertragung Übertitel für das nicht deutschsprachige Publikum einzurichten, da vor allem in den Momenten, in denen der Gesang den Tanz dominiert oder dieser gar völlig innehält – beispielsweise während Orpheus’ tief verzweifelter Arie „Ach, ich habe sie verloren“ im vierten Bild – der Text das Verständnis der Grundstimmung der Szene und der Vorgänge auf der Bühne erheblich fördert.


Besuchte Vorstellung 08.02.08, noch bis zum 19.02.08, Paris, Palais Garnier

www.operadeparis.fr

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