Einflüsse auf das Muskelskelett?
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Das großartige Tanzgastspiel von Crystal Pite und ihrem Ensemble Kidd Pivot im Mousonturm: „Lost Action“
Lass uns von vorn anfangen. Dieser Satz fällt später mehrmals in diesem Tanzstück, aus dem Off und auf der Bühne: Let’s start from the beginning. Doch wo fing es eigentlich an? Einer der Anfänge geht so: Im Fast-Dunkeln tanzen mehrere Gestalten im Gleichmaß auf breiten Beinen mit elegant gerundeten und weit ausgreifenden Armen, vermummt in dicke Anoraks mit Fellrand-Kapuzen. Plötzlich rennt einer aus dieser Ordnung heraus, jemand fällt, steht auf, andere ringen kurz miteinander; sie fügen sich immer wieder in die Menge ein. Ein anderer Anfang zeigt vier Männer Schulter neben Schulter als Reihe, die sich automatisch immer wieder aufbaut, nachdem einer den Ort wechselt. Der dritte Anfang scheint ein Drama zu bergen: Ein Mann liegt wie tot am Boden, drei Männer stehen unbewegt daneben, eine Frau kniet sich neben den Liegenden. Ein weiteres Bild: Eine Frau trägt einen leeren Anorak auf ihren Armen vor sich her wie in einer Zeremonie.
Jede diese Szenen wird fortan, während die Musik von Owen Balton mal bedrohlich dunkle, mal idyllisch singende Töne unterlegt, immer wieder aufgegriffen, entweder als direkte Wiederholung oder viel später wie ein Flash in der Erinnerung. Dass ein solches dramaturgisches Spiel nicht wie Kunstmechanik wirkt, sondern Gedanken ums menschliche Miteinander und um Wahrnehmungs- und Erinnerungsfähigkeit sinnfällige Gestalt gibt, ist die große Leistung dieser Choreografie. Mit ihrem herausragenden Werk „Lost Action“ von 2006 gab Crystal Pite am letzten Oktoberwochenende ein Gastspiel im Mousonturm, und man wünschte sich eine solche Qualität öfter zu sehen.
Die blonde Kanadierin, Jahrgang 1970, ist in Frankfurt keine Unbekannte, seit sie fünf Jahre lang, bis 2001, bei William Forsythe tanzte und zum letzten Mal 2005 im Duett „A Double Story“ mit Richard Siegal im Mousonturm zu sehen war. Längst hat sie für namhafte Kompanien wie das NDT1 und Ballet Jazz de Montréal choreographiert, diverse hochrangige Auszeichnungen erhalten und leitet seit 2001 ihre eigene Truppe „Kidd Pivot“. Diese sieben, einschließlich sie selbst, barfuß und in dunkle Hosen und T-Shirts gekleidet, sind unglaublich gute Tänzer. Pites quecksilbrigen Stil beherrschen sie scheinbar mühelos: hohe Schnelligkeit und Ruhe, Kraft und Weichheit, eine Mischung aus Fest und Flüssig, die Wechsel von feinen Wellen in allen Gliedern, abgehackt puppenhaften Hiphop-Anklängen und kräftigen Linien, mal sanften, mal wuchtigen Kontakten der Tänzer untereinander.
Doch anders als beim europaweit zur Zeit so hochgelobten Briten Wayne MacGregor wird dieses Können hier nicht als solches eitel ausgestellt. Es stellt sich in den Dienst einer zersplitterten Geschichte um Menschen, die aneinander zerren und einander stützen, wobei eins dem anderen seltsam ähnelt. Leid, Liebe und Trauer meint man zu erkennen, die Unverwechselbarkeit eines Schicksals – wieder und wieder liegt derselbe Tänzer wie tot auf dem Boden, und die Frau beugt sich zu ihm. Sowie seine Austauschbarkeit: Ganz am Ende trägt einer der Männer den schlaffen Körper des Liegenden auf seinen Armen, dann erschlafft er selbst, wird getragen, dann der nächste, reihum, auf und ab und immer wieder von vorn. Chance und Fluch: Let’s start from the beginning.
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