Ein Altmeister und zwei junge

Antony Tudors „Lilac Garden“ zwischen neuen Stücken von Philipp Egli und Martin Schläpfer in Mainz

Frankfurt, 25/02/2008

Natürlich fährt der Tanzliebhaber heutzutage nach Mainz, um die neuen Stücke des dortigen Ballettdirektors, Martin Schläpfer, zu sehen. Doch an diesem Wochenende war eine andere Frage beinahe noch wichtiger: Wie würde sich Antony Tudors mehr als siebzig Jahre alte Choreographie „Lilac Garden“, ein seltener Gast in einem deutschen Repertoire, zwischen den Uraufführungen von Schläpfer und seinem Schweizer Landsmann Philipp Egli ausnehmen? In Deutschland ist Tudor nie richtig angekommen. Doch in den angelsächsischen Ländern sieht man Tudor auf einer Ebene mit den Giganten George Balanchine und Frederick Ashton. In seinen Stücken gibt es keine abstrakten Tanzfiguren, sondern nur fühlende und, besonders häufig, leidende Menschen.

Auch „Lilac Garden“ aus dem Jahre 1936 macht da keine Ausnahme. In Englands edwardianischer Gesellschaft zu Beginn des 20. Jahrhunderts wird eine junge Frau zur Aufgabe ihrer großen Liebe und in eine unfreiwillige Ehe gepresst. Hundert Jahre später stünde das Stück durchaus unter Kitschverdacht, wäre da nicht Tudors Meisterschaft der Kleinzeichnung großer Gefühle: eine Choreographie wie hingetupft zu Ernest Chaussons romantischem Poème für Violine und Orchester. In Mainz hat Thomas Ziegler der Choreografie ein neues Bühnenbild verpasst. Das hüllt die sanften, schwebenden Bewegungen, denen Schläpfers Tänzer – mit Kirsty Ross in der Rolle der Braut an der Spitze - genau das richtige Maß an elegischer Expressivität verleihen, mit einer grünen Blätterwand wie in einen Kokon: eine Art Rahmen für eine kleine Kostbarkeit aus einer fernen, fremden Zeit, als das Tanzen noch geholfen hat. Aber vielleicht ist das, was Tudors „Lilac Garden“ in Mainz zum Leuchten bringt, auch der größere Rahmen der beiden Novitäten, die sich dem alten Meisterwerk qualitativ nicht nur anpassen, sondern es an choreografischer Kraft noch übertreffen.

Philipp Egli, von dem man nach diesem Abend durchaus den Eindruck hat, dass er demnächst von St. Gallen als Schläpfers Nachfolger nach Mainz wechseln könnte, hat sich für das halbstündige „Contredanse“ ein halbes Dutzend kleinere Musiken von Jean-Philippe Rameau zusammengestellt, die er mit mutwilligen tänzerischen Attacken begleitet. Der Mond, der bei Tudor sanft durchs Gebüsch lugte, ist in Florian Ettis Bühnenbild zu einer riesigen kreisrunden Scheibe geworden, die den ganzen Hintergrund einnimmt; ein halbes Dutzend aus über Eck gestellten fahrbaren Kuben aus Stahlrohren und Glas wartet an den Seiten darauf, von den elf Tänzern über die Bühne gefahren zu werden. Die fünf Frauen wechseln von hochhackigen Pumps auf flache Sohlen und wieder zurück. Ihre und ihrer Partner quirlige Tänze bersten schier vor Übermut. Doch das Beste kommt am Schluss; auch diesmal ist es Schläpfer selbst, der dem insgesamt überaus gelungenen Abend die Krone aufsetzt. Zum dritten Mal nach Beethovens Siebter und Tschaikowskys Pathétique hat sich der Choreograf eine klassische Sinfonie als musikalische Basis verschrieben: diesmal die „Reformationssymphonie“ (so auch der Titel der Choreographie) Nr. 5 in d-Moll op. 107 von Felix Mendessohn-Bartholdy. Und, um es gleich vorweg zu sagen - die Arbeit ist ihm ungleich besser gelungen als die eher verkorksten Bemühungen um Beethoven und Tschaikowsky: ein großer Wurf.

Das beginnt mit dem Raum, der so aussieht, als hätte ihn Hans van Manens Bühnenbildner Keso Dekker entworfen, aber offenbar Schläpfers eigene Idee ist: eine große, schwarze, offene Bühne, deren dunkle Tiefe die Tänzer ausspeit und wieder verschluckt und nicht wenig zu dem Geheimnis beiträgt, das der Choreografie innewohnt. Auch die dunklen, für Frauen und Männer identischen Trikots, die aus den zierlichen Mainzer Ballerinen attraktive Athletinnen machen, tatsächlich von Marie-Thérèse Jossen, wirken wie von Dekker inspiriert, und immer wieder gibt es tänzerische Momente, die so oder ähnlich auch Schläpfers großem Vorbild van Manen eingefallen sein könnten.

Doch von künstlerischer Abhängigkeit kann keine Rede sein. Nicht nur, dass Schläpfer, wo van Manen auf asketische Besetzung setzt, mit einem großen Ensemble auftrumpft; von seinen zwanzig Tänzern stehen 19 auf der Bühne. Er lässt sich auch, nicht nur, aber vor allem für die Männer, virtuose Bewegungen einfallen, die seinem Vorbild vermutlich zu verwegen erschienen. Souverän wechselt er zwischen Soli, Kleingruppen und großer tänzerischer Attacke, und gleich zweimal, einmal davon vorn an der Rampe, lässt er sein Ensemble eine geschlossene Reihe bilden: eine Formation voller Selbstbewusstsein, von ihrer eigenen Kraft und Wirkung überaus überzeugt.

Von Tudors Spiritualität ist das Welten entfernt. Aber wir leben halt nicht mehr im Jahr 1936 oder gar in jener edwardianischen Epoche hundert Jahre zurück, in der Tudor seinen „Fliedergarten“ angesiedelt hat. Schläpfers „Reformationssymphonie“ ist hart, schnell, virtuos und athletisch, voll auf der Höhe unserer Zeit: Tanz des 21. Jahrhunderts – und dem von der Mitte des vorigen mindestens ebenbürtig, wenn nicht überlegen.

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