Bloß weg von Petipa

Terence Kohler choreografiert „Die Tempeltänzerin“ in Karlsruhe

Karlsruhe, 21/05/2007

Es beginnt vielversprechend mit dem lauten Donnern eines Erdbebens, in das verfremdete Fetzen der Minkus-Musik hineinklingen, auf einem umgestürzten Götzenbild trauert das Goldene Idol. Terence Kohlers Neufassung von „La Bayadère“ lässt sich modern an - wenigstens für fünf Minuten. Die Handlung findet als Erinnerung des Goldenen Idols statt, das hier eben nicht nur sein berühmtes Solo im 3. Akt tanzt, sondern als geheimnisvoller, androgyner Schicksalsbote an allen wichtigen Stellen auftaucht, Menschen herein- oder hinausbegleitet. Etwas verwirrend wirkt allerdings, dass am Ende das Erdbeben gar nicht stattfindet - aber das bleibt nicht das einzige dramaturgische Rätsel dieses Abends.

Birgit Keils Choreografie-Wunderkind Kohler, 23 Jahre jung und gerade mit dem Tanzpreis „Zukunft“ ausgezeichnet, greift bei der Minkus-Partitur auf die Fassung des englischen Dirigenten John Lanchbery für Natalia Makarowas Inszenierung von 1980 zurück; die Musik kommt in Karlsruhe leider vom Band. Die Handlung folgt den Münchner und Wiener Versionen bzw. auch der rekonstruierten Fassung des Mariinsky-Balletts von Sergei Vikharev, das heißt sie fügt anders als die alte Kirov-Version dem Schattenakt noch das Tempelbild mit abschließender Apotheose an. Wo die ganze Ballettwelt heute „zurück zum Original“ schreit, da macht Terence Kohler das Gegenteil - er verzichtet weitgehend auf die tradierte russische Fassung, der zwar im Verlobungs-Grand-Pas, im Walzer davor oder bei der Variation des Goldenen Idols noch getreulich gehuldigt wird, die ansonsten aber durch völlig neue Choreografien ersetzt ist.

Dieser Ansatz wirkt durchaus erfrischend, wenn man die Historie des Stücks nicht kennt; dem traditionsliebenden Ballettomanen dagegen stehen öfters die Haare zu Berge. Wenn es denn eine echte Modernisierung, ein Bruch mit der Tradition wäre, wenn wir zum Beispiel knallbuntes, kitschiges Bollywood oder echten Kathak sehen würden! Nein, Kohler choreografiert durchweg klassisch, aber nicht im Stil der hohen Danse d‘école, sondern in einem dramatischen Stil à la Cranko. Das heißt er erzählt direkter und emotionaler, vor diesem Hintergrund wirkt dann bereits das stilisierte Begrüßungsritual mit der Hand an der Stirn befremdlich, das er wie einige bekannte Posen aus der traditionellen Petipa-Version übernommen hat. Der australische Choreograf macht Gamsatti zum männermordenden Darling der Palastwache, die Männer fallen ihr wie Zizi Jeanmaire reihenweise zu Füßen, oder er hetzt dem ohnehin verzweifelten Solor im letzten Akt auch noch einen schwulen Verehrer auf den Hals - undenkbar für das stark stilisierte und auf Form bedachte russische Ballett. Im Schattenakt taucht fälschlicherweise Gamsatti in Solors Opiumvisionen auf und bringt gleich den halben Palast mit - was hat der Mann da bloß geraucht.

Natürlich ist auch hier alles eine Frage der Erwartungshaltung - verlangt man ein schönes, exotisches Handlungsballett fürs Karlsruher Publikum (und das ist Kohler gelungen) oder will man wenigstens einen Schatten der klassischen „Baydadère“ erhaschen. Den aber gibt es hier nicht einmal im berühmten Schattenakt, der ohne schräge Rampe und ohne Tutus stattfindet. Kohler verzichtet auf das magische, hynpotisierende Ritual der endlosen Arabesquen, er lässt seine 18 Schatten rückwärts aus einem Wasserfall durch lange, changierende Bänder trippeln - brave, bodenverhaftete Mädchen in weißen Satinhosen, so un-vergeistigt wie ihre Schicksalsgenossin Nikiya. Ihr raubt Kohlers mangelnde Charakterisierung jede religiöse Beseeligung, den Konflikt zwischen Tempeldienst und Liebe, außerdem ist die Rolle mit der harmlosen, soubrettigen Paloma Souza leider fehlbesetzt.

Sobald ihre Konkurrentin Anais Chalendard die Bühne betritt, heißt das Stück ohnehin „Gamsatti“. Die elegante, langgliedrige Französin und ihr Partner Flavio Salamanka - als Techniker weiterhin ein nobler Virtuose und als Schauspieler stark gereift - sind die Stars des Abends, ihnen gibt Kohler reichlich zu tanzen, bis Gamsatti schließlich ihren Geliebten ersticht. Für die Apotheose wirft sich Solor dann wieder in seine weiße Gala-Uniform, nachdem er den Schattenakt in Hosenträgern bestritten hatte. Die Grenze zwischen erfrischend naiv und erschreckend stillos bleibt hier durchweg fließend.

Ausstatter Jordi Roig war schon für Vladimir Malakhovs Wiener bzw. Berliner Version zuständig und hat für Karlsruhe ein stark stilisiertes, variables Bühnenbild entworfen, das von zwei riesigen Götterstatuen beherrscht wird. Den durchsichtigen Schleiergewändern von Tomio Mohris Münchner Ausstattung zieht er schwingende Röcke in dezenten indischen Drucken vor (die zum Glück nicht mehr so schwer aussehen wie in Wien), die Männer stecken in Uniformen im Kolonialstil von „Palast der Winde“.

Für das Tempelbild setzen Kohler und Roig die weite Leere der riesigen Karlsruher Bühne effektvoll ein, überhaupt entwickelt der junge australische Choreograf Sinn für dramatische Bilder. Seit „Anna Karenina“ hat er sich auf jeden Fall weiterentwickelt, seine Stärke liegt weiterhin im effektvollen Arrangieren großer Gruppen, aber seine ganze Herangehensweise bleibt dennoch von einer staunenswerten Unbekümmertheit, der man genauso Züge von jugendlichem Genie wie von Überheblichkeit attestieren muss.
 

Link: www.staatstheater.karlsruhe.de

Kommentare

Noch keine Beiträge