In luftiger Höhe (mit einigen Abstürzen)

Die Bilanz der Spielzeit 2006/07

oe
Stuttgart, 18/08/2007

Schluss der Saison – also gilt es, wieder einmal Bilanz zu ziehen. Das erscheint mir von Jahr zu Jahr schwieriger, wenn ich feststellen muss, dass ich DAS eine Ereignis, DEN oder DIE Tänzer/Tänzerin, DIE Sensationsentdeckung nicht nennen kann. Und wiederum betonen muss, dass ich nur diejenigen nominieren kann, die ich gesehen habe. Und darunter fehlen eben auch jene zwei Produktionen, die ich liebend gern gesehen hätte, die mir aber unerreichbar waren: Alexei Ratmanskys Moskauer Bolschoi-„Le Corsaire“ und Aaron Watkins Dresdner „Dornröschen“.

Beide sind Teil jener Bewegung, die für mich die erfreulichste Entwicklung der Spielzeit 2006/07 ist: die geradezu rasant voranschreitende weltweite Petipa-Renaissance – wie unterschiedlich ihre Ergebnisse auch ausgefallen sein mögen. Sicher gehören der Münchner „Le Corsaire“ und der Zürcher „Don Quixote“ zu den Höhepunkten der Saison – wie auch die Bolschoi-Gastspiele mit „Don Quixote“ in Baden-Baden und München. Hoch zu loben auch die Münchner Petipa-Konzentration über Wochen und Monate hinweg – mit dem Symposiums-Wochenende, das allerdings ein nachhaltigeres publizistisches Echo verdient gehabt hätte. Und vergessen wir nicht das couragierte Karlsruher Unternehmen der „Tempeltänzerin“ von Terence Kohler, dem einzigen unserer Junggenies, das sich an ein derart ehrgeiziges Projekt gewagt hat (wie denn überhaupt das ständige Qualitäts-Crescendo von Karlsruhe höchsten Respekt verdient).

Erfreulich finde ich auch die ruhige und beständige Arbeit, die von so vielen unserer Kompanien geleistet wird – und die nicht unbedingt von der Größe einer Truppe abhängt (siehe Mainz) und die mich in den letzten Monaten auch nach Halle und Dessau geführt hat. Wenn ich denn aber die „oes“ der Spielzeit zu benennen hätte, so gehen sie außer an die hier schon nominierten Ereignisse aus meiner limitierten Stuttgarter Sicht an: John Neumeier und die revidierte Hamburger Version seiner „Kleinen Meerjungfrau“ (auch für die Ballettkomposition von Lera Auerbach) als beste Produktion eines abendfüllenden Handlungsballetts; Heinz Spoerli für „Prime Time“ als beste Choreografie eines konzertanten Balletts (und die Entdeckung von James MacMillan als potentieller Ballettkomponist); Sidi Larbi Cherkaoui als innovatorischster Choreograf mit „Myth“; Marco Goecke als kreativster Nachwuchschoreograf mit seinem „Nussknacker“; Daniela Kurz für die Opern-Choreografie in der Aldeburgh/Bregenz-Produktion von Brittens „Death in Venice“; Reid Anderson für die Wiederaufnahme von Jerome Robbins‘ „Dances at a Gathering“ und Maurice Béjarts „Gaité Parisienne“ als beste Duo-Programmkombination der Spielzeit; Silvia Azzoni als beste Tänzerin in der Titelrolle der „Kleinen Meerjungfrau“; Roberto Bolle als bester Tänzer in der Rolle des Armand in der Hamburger „Kameliendame“; Natalia Osipova und Ivan Vasiliev als aufregendste Newcomer beim Gastspiel der Moskauer mit „Don Quixote“ in München; die fabelhaften Jungs aus der Ballettschule von Eriwan in Zürich, Hamburg und München; als beste TV-Produktion: Ratmanskys „Der Bolzen“ bei arte; als beste DVD die „Ballets Russes“-Produktion über die Diaghilew-Nachfolgekompanien bei Sundance; als wichtigste Buchveröffentlichung „Souvenirs de Taglioni“ bei K. Kieser in München; als bester Ballettartikel: Manuel Brugs „Wo sind die großen Tänzer?“ anlässlich der Hamburger Abschiedsvorstellung von Alessandra Ferri in der „Welt“ vom 12. Juni 2007.

Und zum Schluss noch die Sektion der Nominierungen, die eigentlich mit einer Trauerumrahmung erscheinen müssten: Das Ende des balletttheaters münchen; das Absinken des Wiener Staatsopern- und Volksopernballetts in die künstlerische Belanglosigkeit; der Verzicht auf die Dokumentation der Spielzeit im Jahrbuch von „ballettanz“; die geradezu absolutistische Einseitigkeit der Tanzberichterstattung in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“. Und damit verabschiede ich mich bis zum Beginn der neuen Saison – voraussichtlich am 1.September in Zürich

Kommentare

Noch keine Beiträge