Ein Seelenportrait
„Das Innerste des Schweigens“ von Olaf Schmidt beim Ballett Lüneburg
Eine imponierende, fast verwirrende Vielfalt an Ausdrucksformen von Bewegung, Gestik, Raumstrukturen und Musiktönen, Geräuschentwicklungen erwartet die Tanzliebhaber/innen beim Internationalen Internet-Tanzfestival, das zum dritten Mal vom Side-by-Side Art Center e.V. (Düsseldorf) organisiert wird. Aus 124 Bewerbungen - im Jahr 2006 bewarben sich 189 Choreographen, zehn kamen in den Wettbewerb - wählte eine Jury acht Produktionen aus. Bis zum 14.Dezember haben Internet-Besucher Zeit, sich diese jeweils vierminütigen Stücke unter www.side-by-side.org anzuschauen und ihr Urteil abzugeben - von einem bis zu fünf Sterne(n). Das Finale steigt Anfang 2008 auf der Bühne des FFT (Forum Freies Theater) Düsseldorf.
Bei den beiden vorangegangenen Festivals haben sich nach Auskunft des Veranstalters über 35 000 Menschen die Videos angesehen. In den Zeiten der mehr und mehr verbreiteten Flatrate und der größeren Monitore (Flachbild) sollte sich die Zahl vervielfachen. Zumal jeder sich die Choreografien / Performances beliebig oft laden, sein Votum also auf mehrmaligem Anschauen gründen kann. Und das scheint mir bei einigen Beiträge dringend notwendig zu sein, will man sich nicht von der ersten Spontanreaktion überrumpeln lassen.
Verblüffung löst im ersten Augenblick Vanessa Le Mats „How many miles“ bei mir aus: Ist das ernst gemeint? Ist es ein Bluff, der mit Erwartungshaltungen auf Hochgestochenes spielt? Sehr konzentriert vollführt die überschlanke (längenverzerrt?) Le Mat (Französin), gekleidet in Jeans und Shirt, Gänge durch einen hohen, weißen Raum, tritt hier auf einen der verteilt liegenden Schwämme, die mit einem blauen Häufchen gekrönt sind, und erzeugt, na was wohl, eine blaue Fontäne, schnappt sich dort eine spitz zulaufende Röhre (ähnlich einer mittelalterlichen Kopfbedeckung) und schmückt sie mit einem Farbstreifen. Zwischendurch exekutiert sie etwas, was sich als Tanzschritte bezeichnen ließe. Sie überstreicht Buchstaben an der Rückwand, wickelt eine Papierrolle ab …. Ein Stern für die gute Absicht.
Schmerz auf gänzlich unterschiedliche Weise ist Thema zweier Choreographien: „Enjoy the Pain“ von Stephan Delattre (französisch) entrückt ihn in poetische Höhen, lässt masochistische Texte in Englisch, Französisch und Deutsch zitieren, stellt dazu als Gegensatz die athletisch wirkende Tänzerin Katja Wünsche auf die Bühne. Deren kraftvolle, weit ausgreifende Bewegungen faszinieren in ihrer absolut beherrschten Mischung aus klassisch grundierter Technik und präzis bewältigter Verdrehung. Im Bodytrikot, mit nackten, muskulösen Beinen, zelebriert sie pure Körperlichkeit mit erotischen Momenten. Keinen Moment scheint dabei Schmerz auf. Die Ebenen Sprache und Tanz berühren sich nicht. Selbst als Hände aus der Gasse (an-)greifen, rastet die Choreografie Delattres nicht aus, sie bleibt kühl kontrolliert und phasenweise bildschön in der Interpretation von Katja Wünsche. Drei Sterne für das Stück (fünf Sterne für die Tänzerin).
„Ein toller Schmerz – der war so schön, fing unten an, ein Stechen und Brennen“. Auf Deutsch, oh Wunder, spricht die Kubanerin Mauro Morales in ihrem „Hypochonder“ über das tägliche existenzielle Körperzwicken und -zwacken als Tänzerin, zieht es in eine Atmosphäre zwischen Klage und distanziertem Amüsieren über ihre „Schwäche“. Nach dem Textblock zeichnet sie auf einer grünen, grünen Wiese den Gang des Schmerzes durch ihren Körper, krallt sich in die Hüfte, die Brust, tastet nach dem Fuß. Bis das Tempo sich steigert zur Raserei, der Körper sich in alle Richtungen gleichzeitig zerrt. Nahaufnahmen von Gesicht, Füßen und Beinen, das langsame Rückwärtsfallen zu knarrendem Geräusch verdichtet die Szene. „Dona nobis requiem“ singt eine Frauenstimme: ironische Brechung. Daraus gebiert die Morales nach Wehenkeuchen Rosenblätter: Schönheit aus dem Schmerz gewachsen. Langsam, mit gekrümmt angesetzten Schritten und zu Boden gleiten, schiebt sie sich aus dem Bild. Fünf Sterne für die mutige Morales.
Viel Frust und wenig Freud im Paarleben zeigt „All windows are open“ von Nadar Rosano (Israel), furios getanzt von Daphan Mero, Aner Parker und Asaf Avidan (einer der Männer spielt E-Gitarre, bleibt Randfigur) zu im weitesten Sinne rockigen Klängen. Hektisches Aufeinanderschlagen von Handrücken, Handfläche, gewalttätige Pendelbewegungen von Beinen, Armen, ausgelöst von der Berührung des/der anderen, und des ganzen Körpers, bei der sie ihn rücklings in Hüfthöhe mit den Beinen umschlingt, während er sie brutal vor sich hin und her schwenkt – Kampf statt Zärtlichkeit. Abrupte Schnitte mit Szenenwechsel erhöhen die Hektik, die nur kurz aussetzt, als sich die beide Wange an Wange fast liebkosen. Kreischender Sound – Stille – Kreischender Sound – Stille begleiten zum Finale endloses Seitwärtsfallen aus der Kniestellung, er wirft die Arme zum hymnischen Luftgitarrenspiel. Vier Sterne für den Kraftakt.
„Alienation“ von Konstantin Tsakalidis (Deutschland) widmet sich ähnlichen Prozessen der vergeblichen Annäherung. Leinwände unterteilen den Zuschauerraum. Die Tänzer sind unter den Zuschauern, wird behauptet. Dementsprechend fährt die Kamera ziemlich nervös von einer zur anderen Tänzerin, erwischt eine auf einem der roten Stühle – Spielmaterial -, die andere im „lockeren“ Kontakt mit Personen aus dem Publikum. Zur Life-Musik mit Streichern und Percussion vollführen die Tänzerinnen Luise Bammes, Naby Oberbeck, Zaida Ballesteros, Vivian Holmes (und der Tänzer Gregor Müller) vereinzelt Posen auf den roten Stühlen, schütteln sich, eine hängt mit einer Hand am sich drehenden Seil. Schließlich entwickelt sich ein Frauenduo mit synchronen Abläufen und harten Berührungen. Gegenläufíg setzen sie gleichzeitig zum Sprung an, mit dem sie sich in der Mitte zu treffen scheinen. Aber, sie fliegen aneinander vorbei, obwohl sie sich noch zu fassen suchen. Drei Sterne für Momentqualität.
Sublimierte Folklore setzt der Mexikaner Fidel Neri Juarez expressiv in seinen selbst getanzten „Life Steps“ ein. Eine Art Lebensweg scheint er darzustellen. Zu Babygeschrei zieht er sich anfangs aus der Rückenlage zur Embryohaltung nach oben zusammen. Richtet sich auf, atmet schwer mit Echo, streckt sich auf einer quer laufenden Lichtbahn zur Kreuzform und schwingt die Arme zu Maschinengeräuschen, die Beine halb gegrätscht, auf den Fersen balancierend. Nach einem Harfenarpeggio tanzt er im Halbdunkel wie eine Frau mit einem Röckchen, über den Hosen getragen. Folkloreklänge, dazu bricht etwas wie Glasgeklirr ein, treiben ihn zu parallelen Hüpfern, Verschiebungen. Unversehens stürzt er nach vorn auf die Knie. Eine eigentümliche Spannung baut sich auf. Zu Tönen wie von einem Charango dreht er die Beine unter dem Körper nach rechts und links, reibt die Hände kreisend über das den Oberkörper, dort wo ein rotes Herz auf schwarzem Shirt leuchtet. Mit dem Rücken zum Publikum geht er ab. Seine Choreographie wirkt wie ein archaisches Ritual der Selbstfindung. Fünf Sterne für die fremdartige Faszination.
Doppelt trägt Maren Strack (deutsch) auf. In ihrem „YTONG“ formt sie mit Flamenco-Zapateados einen Ytong-Stein zur Skulptur: Tanz und Bildhauerei vereint, ohne mühselig Verbindungsstränge herstellen zu wollen, sie sind einfach, simpel, aber bestechend da in der Konsequenz von Strack. Sie bearbeitet den Stein mit Schuhen, die mit Stahlzacken bewehrt sind. Den zu Beginn intakten Stein zerteilt sie erst in zwei Hälften, setzt diese übereinander zu zwei Schichten, schließlich im weiteren Verlauf zu drei Schichten unregelmäßig geformter Steinteile. Darauf balanciert sie nicht nur, sondern steigert auch allmählich das Tempo bis zum Augenblick, in dem sie abrutscht. Die Kamera zoomt auf die Trümmer zu, sie formen sich zu einer Plastik. Vier Sterne für konsequente Verfolgung einer Idee.
Spielte bis dahin die politische Weltschau keine Rolle, so ändert sich das mit „Execution ground“ (Hinrichtungsfeld), von André Jolles (deutsch). Hängender Mann hinter Drahtzaun, greller Lichtschein, rotes Tuch wie ein Blutstrom, hin und her rollen - und einer hält die prekäre Balance auf einer Stuhllehne. Ob mir etwas verborgen geblieben ist hinter der plakativen Oberfläche der Betroffenheitsäußerung, ausgeführt von Tuong Phoung, Benedetta Reuter, Alice de Souza, Andre Jolles? Zwei Sterne für den Versuch.
Allgemeines: Die kurze Dauer der Stücke zwingt zur Konzentration, verhindert breitgetretenen Quark, setzt aber auch der differenzierten Gestaltung (zu) starke Grenzen. Manche Stücke wirken, als seien sie gewaltsam gekürzt worden, um im Vier-Minuten-Rahmen zu bleiben. Ich meine deshalb, die Dauer sollte mindestens verdoppelt werden. Wie schon oben gesagt, ist das bei Flatrate und DSL keine Schwelle für Interessierte.
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