„Dostojewski Idiot Schwanensee“ von Olaf Schmidt. Tanz: Ensemble

„Dostojewski Idiot Schwanensee“ von Olaf Schmidt. Tanz: Ensemble

Tanz der Kontraste

Olaf Schmidts „Dostojewski Idiot Schwanensee“ beim Lüneburger Ballett uraufgeführt

Dostojewskis „Idiot“ in Kombination mit Tschaikowskys „Schwanensee“: Ein Stück über die Grundfragen des Daseins: Leben und Tod, Liebe und Hass, Eifersucht und Verzicht. Ein großer Wurf auf einer kleinen, aber feinen Bühne.

Lüneburg, 18/01/2023

Der Stoff eines über 1000-seitigen Romans eines russischen Literaturschwergewichts – „Der Idiot“ von Fjodor Dostojewski. Die Musik aus einem der bekanntesten Klassiker des Balletts – „Schwanensee“ von Peter Iljitsch Tschaikowsky. Und die Bühne eines ehemaligen Kinos, das zum Drei-Sparten-Theater einer Kleinstadt vor den Toren Hamburgs – Lüneburg, auch eine Hansestadt! – umgewandelt wurde. Kann das gut gehen? Ja, es kann, wenn der richtige Choreograf am Werk ist. In diesem Fall ist das Olaf Schmidt, der schon seit geraumer Zeit die Tanzszene in der niedersächsischen früheren Salzmetropole aufmischt. Es gibt wohl kaum einen, der sich so furchtlos großer Themen annimmt – und sie dank einer exzellenten 10-köpfigen Kompanie auch umzusetzen vermag.

Jetzt also Dostojewskis „Idiot“ in Kombination mit „Schwanensee“. Die Idee schlummere schon lange in ihm, sagt er im Gespräch vor der Premiere (sogar dafür hat er die Ruhe weg!): „Eigentlich wollte ich das schon vor zehn Jahren als allererstes Stück hier in Lüneburg bringen, noch vor ‚Kaspar Hauser‘. Aber es war mir dann doch zu heikel, es hätte seinerzeit noch nicht funktioniert.“ Auf die Idee gebracht hat ihn die Inszenierung und Choreografie von Valery Panow an der Deutschen Oper 1979 in Berlin mit Eva Evdokimova und seinem früheren Lehrer Vladimir Gelvan in den Hauptrollen. Ein legendäres, sensationell erfolgreiches Ballett zu Musik von Dimitri Schostakowitch, das sogar an der Met in New York gefeiert wurde.

Auch Olaf Schmidt trug sich mit der Idee, sein Stück mit Musik von Schostakowitsch zu kombinieren. „Aber ich war nie zufrieden mit meiner Auswahl, es war alles so niederdrückend und schwer, und das in einer Zeit, da war der Ukraine-Krieg noch nicht ausgebrochen, alle waren froh, dass die Corona-Krise endlich einigermaßen überstanden war, da will man nicht noch schwere Musik hören, nichts, was runterzieht. Im Gespräch mit Freunden schoss es mir dann durch den Kopf: Warum nicht ‚Schwanensee‘? Diese Musik spiegelt die Sehnsucht, aber auch die Verzweiflung des Romans. Schon im Vorspiel ist alles drin...“

Diverse Analogien zwischen Roman und Ballett drängen sich auf, wie Olaf Schmidt findet: „Es gibt einen Prinzen – Fürst Myschkin. Es gibt einen weißen Schwan – Aglaia. Es gibt einen schwarzen Schwan – Nastassja. Es gibt Rogoschin als dunkles Abbild des Zauberers Rotbart – diese ganze Polarisierung zwischen Weiß und Schwarz.“ Weshalb es nicht von ungefähr kommt, dass auch Bühnenbild (Manuela Müller) und Kostüme (Cornelia Brunn) sich an diese Welt der Kontraste halten. Ein rotes Sofa ist das einzige Requisit, ein hellgrauer Halbvorhang, senkrecht zerstückelt, dient als Bühnenteiler und Paravent. Nur Nastassja, neben Fürst Myschkin (in weiß) und Rogoschin (in schwarz) die tragische Hauptperson, trägt Rot, ein knallrotes, fließendes, blutrotes Abendkleid mit variabler Rocklänge und -weite, eine ebenso einfache wie geniale Idee. 

Und tatsächlich passen Musik, Tanz und Thematik hier erstaunlich gut zusammen. Es fällt gar nicht schwer, sich von den Bildern zu befreien, die einem bei den „vier kleinen Schwänen“ oder den anderen sattsam bekannten Stellen zwangsläufig durch den Kopf gehen, zumal Olaf Schmidt die Reihenfolge der Musik komplett durcheinandergewirbelt und um gut eine dreiviertel Stunde gekürzt hat.

Olaf Schmidt kondensiert auch den Roman auf das Wesentliche: Fürst Myschkin, ein epilepsiekranker russischer Adliger, kommt nach mehrjährigem Sanatoriumsaufenthalt in der Schweiz nach St. Petersburg zurück. Deren zaristische Gesellschaft erträgt er kaum in ihrer Verlogenheit, Geldsucht und Ichbezogenheit, weshalb er dort in seiner Gutherzigkeit, Wahrhaftigkeit und Aufrichtigkeit, die keine Verstellung kennt, als „Idiot“ gilt. Myschkin trifft auf Rogoschin, einen reichen Emporkömmling, der ihm von der schönen Nastassja erzählt, zu der sich Myschkin sofort hingezogen fühlt und ihre tiefe Verletztheit erkennt. Nastassja erwidert seine Zuneigung. Sie ist als Waise bei einem älteren Mann aufgewachsen, Totski, der sie schon als Jugendliche vergewaltigt und zu seiner Maitresse gemacht hat, weshalb sie von der St. Petersburger Gesellschaft als Prostituierte betrachtet und ausgeschlossen wird. Um Nastassja loszuwerden, will Totski sie mit dem jungen Ganja verheiraten. Als die Verlobung verkündet werden soll, bietet Rogoschin, der Nastassja für sich haben will, 100.000 Rubel für sie. Nastassja wirft das Geld ins Feuer und sagt, wenn Ganja die Scheine aus dem Feuer holt, heiratet sie ihn. Daraus wird aber natürlich nichts, und sie geht mit Rogoschin. Die Liebe zu Myschkin kann sie nicht wirklich zulassen, weil sie sich durch ihre Vergangenheit beschmutzt fühlt. Deshalb unterstützt sie anfangs, dass Myschkin Aglaia, heitere Tochter eines vermögenden Generals, heiraten soll, verstreitet sich aber mit ihr, als sie merkt, dass Aglaia Myschkin gar nicht wirklich liebt. Jetzt ringt sie sich doch dazu durch, Myschkin zu heiraten, rennt aber unmittelbar vor der Eheschließung vom Altar weg und kehrt zu Rogoschin zurück. Als Myschkin sie dort aufsuchen möchte, hat Rogoschin sie bereits in einem Anfall von Eifersucht und Herrschsucht getötet – er hat realisiert, dass Nastassja und Myschkin etwas verbindet, an das er nicht herankommt.  

In diese tragische Geschichte verwoben sind zwei weitere Ebenen. Zum einen die der Kinder. Denn alle Protagonisten reden im Roman von ihrer von Gewalt und Demütigungen geprägten Kindheit. Auch Dostojewski selbst hatte einen sadistischen Vater und wurde viel geprügelt. Als Gegenstück dazu schildert Dostojewski das heilende Element: Die Kinder des Schweizer Dorfes, in dem Myschkin während seines Sanatoriumsaufenthaltes lebte, grenzen eines der Mädchen aus, weil sie verführt und damit unrein geworden war. Myschkin, der Gutmensch, leitet die Gruppe jedoch dazu an, sie nicht zu verurteilen und wieder in ihre Mitte aufzunehmen. Das verarbeitet Olaf Schmidt in einem fulminanten Ensemble.

Die zweite Ebene betrifft Ippolit, einen jungen, schwer an Tuberkulose erkrankten Studenten, der weiß, dass er nur noch wenige Wochen zu leben hat. Er beschließt, die Gesellschaft mit all dem zu konfrontieren, was ihm im Angesicht des Todes durch den Kopf gegangen ist. In dieser Gnadenlosigkeit ist er gewissermaßen ein Gegenentwurf zu Myschkin. Es geht um die Guillotine (Dostojewski selbst war einmal zum Tode verurteilt und erst in allerletzter Minute begnadigt worden), die Kinder, den Tod, das Christusbild von Holbein nach der Kreuzabnahme (Sinnbild für die Todesstunde und das, was einem Menschen in diesen Sekunden durch den Kopf gehen mag), und schließlich um die Überwindung des Todes – grundsätzliche Fragen des Seins also. Olaf Schmidt hat für diesen Part einen jungen Schauspieler engagiert, der sechs Texte spricht, die direkt aus dem Roman entlehnt sind und den Tanz immer wieder unterbrechen. So scheucht Ippolit als Störfaktor immer wieder die St. Petersburger aus ihrer Hoffart auf und erinnert sie an ihre eigene Vergänglichkeit. Ippolit hält der Gesellschaft damit einen Spiegel ihrer selbst vor: Was nützt ihr im Angesicht des Todes all die Gefallsucht, das Geld, die Habgier? Nichts. Und das Leben kann ja schon morgen zu Ende sein. Richard Erben, als einziger im Ensemble in einen Schlabber-Pullover in ausgewaschenem Grün mit ebensolchen Strumpfhosen gekleidet, spricht diese Texte mit großer Präsenz und ebenso großer Präzision.

Warum musste das alles so ausführlich dargestellt werden? Weil man sonst nicht versteht, wie schwierig es gewesen sein muss, all das in ein Tanzstück umzuwandeln. Olaf Schmidt findet dafür eine ungemein dynamische, aber auch zärtliche Bewegungssprache. Mit vielen kantigen, aber auch schmelzend fließenden Gesten in den Soli und Ensembles. Mit ausgefeilten und ausdrucksstarken Pas de Deux. Sein Ensemble folgt ihm dabei bedingungslos und hingegeben: Irene La Monaca verleiht ihrer Nastassja eine scheue Schönheit, lässt aber auch die innere Zerrissenheit ahnen; Clément Coudry-Herlin ist ein sehr bodenständiger Myschkin, der immer wieder verblüfft vor der eigenen Courage zurückschreckt; Wallace Jones gibt Rogoschin düstere, gebieterische Züge und meistert den schwierigen Part auch tänzerisch formidabel, was umso beachtlicher ist, als er erst zehn Tage vor der Premiere für den Corona-positiv getesteten Vicent Munoz Amo eingesprungen ist; dieser – gerade genesen – übernahm dafür die eigentlich für Jones vorgesehene Rolle des Totski, die weniger kräftezehrend ist; Rhea Gubler ist eine jugendlich-heitere Aglaia, die aber auch zur Kratzbürste werden kann, wenn sie sich mit Nastassja in die Haare kriegt; Phong Le Thanh, Claudia Rietschel, Júlia Cortés, Hugo Prunet, Elena Trägler und Samuel Dorn übernehmen wechselnde Rollen und zeigen große Verwandlungsfähigkeit.

Lediglich im zweiten Teil des Abends werden einige Schwächen deutlich. Da ist die tänzerische Dramaturgie noch nicht wirklich schlüssig, da reihen sich drei Soli hintereinander, die man nicht wirklich in Zusammenhang bringen kann, und da scheint es fast, als sei Olaf Schmidt dann doch ein bisschen die Luft ausgegangen. Vielleicht hat das an dem hohen Zeitdruck gelegen, unter dem die von den vielen krankheitsbedingten Ausfällen begleitete Produktion zustande kam. Und womöglich ändert sich daran ja auch noch etwas – es wäre nicht das erste Mal, dass ein Choreograf noch nach der Premiere Hand an seine Kreation legt.

Das Orchester des Theaters Lüneburg unter der Leitung von Gaudens Bieri spielt die vielschichtige Musik Tschaikowskys mit großem Elan und erstaunlich präzise. Dabei ist es nicht hoch genug anzurechnen, dass der Dirigent die Augen nicht nur im Orchester hatte, sondern genauso auf der Bühne. Die Tänzer*innen dort konnten sich darauf verlassen, dass er sie weder verhungern noch im Tempo abstürzen lässt – eine Seltenheit in deutschen Theatern.

Das Publikum war begeistert und feierte alle Beteiligung mit standing ovations, wobei es eine besonders schöne Geste von Olaf Schmidt war, nicht nur alle an der Produktion Beteiligten, sondern auch das gesamte Orchester für den Applaus auf die Bühne zu holen.
 

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