„Orpheus und Eurydike“ von Olaf Schmidt. Tanz: Leandro Marziotte, Franka Kraneis, Wallace Jones, Wout Geers, Francesc Marsal

„Orpheus und Eurydike“ von Olaf Schmidt. Tanz: Leandro Marziotte, Franka Kraneis, Wallace Jones, Wout Geers, Francesc Marsal
 

Ein großer Wurf

Olaf Schmidts Version von „Orpheus und Eurydike“ als getanzte Oper am Theater Lüneburg setzt neue Maßstäbe

Eine der schlüssigsten und pfiffigsten Adaptationen von Glucks zeitlosem Meisterwerk ist jetzt in Lüneburg zu sehen - als Mischung aus Oper und Ballett in einer von A bis Z überzeugenden Inszenierung.

Lüneburg, 25/09/2019

Diese Inszenierung ist ein Glücksgriff auf allen Ebenen: hervorragende SängerInnen (der Countertenor Leandro Marziotte, die Mezzosopranistin Franka Kraneis, die Sopranistin Sarah Hanikel, ein bestens eingestimmter Chor), ein ausgeklügeltes Bühnenbild (Barbara Bloch), zurückhaltend-schlichte Kostüme (Gesa Koepe), ein kooperativer, souveräner Generalmusikdirektor (Thomas Dorsch), neun TänzerInnen von jeweils solistischem Format, und ein Ballettdirektor (Olaf Schmidt), der nicht nur ein großartiger Choreograph ist, sondern ebenso virtuos die Klaviatur von Regie und Inszenierung beherrscht. Schlüssig ist seine Version vor allem deshalb, weil hier Tanz, Musik und Gesang tatsächlich zu einer Einheit verschmelzen, so dass man denkt, Gluck habe dieses Stück von Anfang an so gedacht. Da läuft nichts nebeneinander her, ist nichts nur Beiwerk, sondern alles ist immer direkt aufeinander bezogen, ergänzt sich, schwingt und atmet miteinander

Olaf Schmidt ist nicht der einzige, der sich gerade jetzt dieser Barock-Oper angenommen hat. Erst im Februar war das Werk - ebenfalls als Mischung aus Oper und Ballett in einer neuen Fassung von John Neumeier an der Hamburgischen Staatsoper - zu sehen (Neumeiers reine Ballettversion von 2009 bedient sich anderer Musik). Schon 1975 hatte Pina Bausch ihre Version vorgelegt - und Maßstäbe gesetzt. „Es war der Wunsch des Intendanten“, sagt Olaf Schmidt. „Er wollte diese Oper und dass ich sie in Kombination mit dem Tanz inszeniere.“ Er selbst habe durchaus Zweifel gehegt, ob das so richtig sei, aber dann habe er doch alles hinter sich und auf sich beruhen lassen und sich an die Arbeit gemacht: „Es ist meine ganz eigene Version, unabhängig von allen anderen, ich muss mich mit niemandem messen, es geht um die Arbeit, um nichts anderes.“ Aus dieser Arbeit entsprang eine der pfiffigsten Interpretationen dieser Oper - auf kleiner Bühne, mit kleinem Ensemble, mit geringen Mitteln. Aber was für ein überzeugendes Kunstwerk ist da entstanden!

Für Olaf Schmidt ist es wichtig, dass die SängerInnen im Mittelpunkt stehen, nicht die TänzerInnen. Das Ballett begleitet - und doch wieder nicht. Denn es ist weit mehr als eine Begleitung, es ist ein kongeniales Abspüren von Stimmungen und Gefühlen - immer im Dienst des Gesangs. „Die TänzerInnen dürfen nicht anfangen, mit sich selbst zu arbeiten und Manierismen zu entwickeln“, sagt Olaf Schmidt. „Sie müssen in jeder Sekunde, die sie tanzen, auf den Sänger fokussiert sein. Es gibt keine Vereinzelung des Tänzers auf der Bühne. Orpheus ist der zentrale Punkt. Der innere Fokus liegt immer auf ihm.“ Jede falsche Bewegung entlarve sich sofort als unpassender Schnörkel. Lange habe er mit dem Ensemble daran gearbeitet, jegliche falsche Arabesque auszumerzen, bis wirklich nur noch die Essenz des Gefühls als Bewegung übrigblieb.

Es hat sich gelohnt. Olaf Schmidt hat diesem oft so schwülstig daherkommenden Werk eine uneitle Nüchternheit verpasst, die dennoch genau das Quäntchen Beseeltheit aufweist, das notwendig ist, damit der Kern der Geschichte aufscheinen kann: Dass ein Künstler durch den Schmerz hindurchgehen muss, um wahrhaftige Kunst zustande bringen zu können. Der Schmerz, die Trauer, das Leid als Voraussetzung, dass Großes entstehen kann - das ist eine der zentralen Botschaften dieser Oper. Und deshalb ist Orpheus bei Olaf Schmidt ein Sänger, der sich in seiner Garderobe vor seinem Auftritt an seine verstorbene Frau erinnert, an die glücklichen Tage mit ihr. Umso drastischer gerät dann der Kontrast, als Orpheus realisiert, dass die Geliebte nicht mehr da ist. Die TänzerInnen wirken hier wie Spiegelungen von Orpheus' Seele - sie setzen seine Stimmungen und Gefühle in Tanz um; mehr noch: sie verstärken den Gesang um die Dimension der beseelten Bewegung, ohne ihn je zu dominieren oder zu überzeichnen. Eurydike erscheint Orpheus wie ein vielfaches Trugbild - die Tänzerinnen sind von langen Tüllschleiern verhüllt und entziehen sich ihm immer genau dann, wenn er sie zu fassen trachtet.

Selten sieht man Tanz und Gesang so miteinander im Einklang. Vor allem, weil der Darsteller des Orpheus, der Countertenor Leandro Marziotte aus Uruguay, fast schon selbst als Tänzer durchgeht mit seinem zarten Körperbau und seiner musikalischen Art, sich auf der Bühne zu bewegen. Er gebietet nicht nur über eine grandiose Stimme, sondern eben auch über das gewisse Etwas, das sich mit dem Tanz zu einem Gesamtkunstwerk zu vereinen vermag. Es ist ein weiterer Glücksgriff dieser Inszenierung, dass Olaf Schmidt den Part des Orpheus mit einem Countertenor besetzt hat, und dann auch noch mit diesem. Denn damit bietet sich ihm die Möglichkeit, in die ansonsten eher schlichte, aber hoch emotionale Wiener Fassung von Glucks Oper ein paar Elemente aus der kapriziöseren Pariser Fassung mit einzubauen, zum Beispiel die Koloratur-Arie des Orpheus mit ihren mehrfachen hohen Gs, die normalerweise ein Mezzosopran singt, und in der er seiner Freude Ausdruck verleiht, in die Unterwelt hinabsteigen zu dürfen. Wie mühelos Leandro Marziotte diese schwierige Arie singt, ist absolut atemberaubend - schwerelos perlen die Töne, mühelos erklimmen sie jede Höhe, beseelt auch dann noch im Ausdruck, wobei ihm die italienische Sprache zu Hilfe kommt, in der die gesamte Oper in Lüneburg gesungen wird.

Den Tanz hält Olaf Schmidt ganz reduziert, ganz schlicht, aber gerade deshalb gerät er so eindrucksvoll. Seine bodennahe Choreografie (die TänzerInnen tanzen meist barfuß oder mit Tanzsocken) hat dieses Erdverbundene, das Elementare, das gerade Stücken wie diesem so gut bekommt, weil sie gerne in Gefahr geraten abzuheben.

Großartig auch, wie Olaf Schmidt die Furien der Unterwelt in eine vielköpfige Spiegelung Orpheus' verwandelt: „Wir wollten keine Furien auf der Bühne haben - wer will schon dreiköpfige Hunde oder andere Monster sehen? Es geht doch um Orpheus, es ist seine eigene Unterwelt, in die er hinabsteigt, seine eigenen Abgründe, die er aufsucht. Die Furien - das sind die kaputten Orpheuse, seine verletzten Ichs. Gegen die singt er an, sie muss er besänftigen.“ Und so sieht der Chor eben rein äußerlich aus wie Orpheus, er trägt den gleichen Anzug, Männer wie Frauen. Der einzige Unterschied besteht in den hässlichen Strumpfmasken, die die Choristen sich über das Gesicht gezogen haben.

Ebenso gekonnt die Darstellung des Elysiums, dem Olaf Schmidt jeglichen Kitsch austreibt: Hier ist Orpheus auf Droge, auf einem Trip dank einer Pille, die ihm Amor zugesteckt hat - die Anspielung auf den erhöhten Drogenkonsum bei KünstlerInnen ist deutlich. Und so erlebt Orpheus das Elysium als schräge Welt voller weißer Ratten, die gemütlich im weißen Bademantel und in Frotteeschlappen über die Bühne hatschen und Cocktails trinken…

Das Stück - wie von Gluck vorgesehen - mit einem Happy End zu beschließen, war für Olaf Schmidt allerdings ein Ding der Unmöglichkeit: „Es wäre keine Liebesgeschichte, wenn sie glücklich ausginge! Man hat die kleine Liebesgeschichte zuhause, auf der Bühne will man die großen Gefühle - und die enden selten glücklich.“ Aber natürlich darf auch hier der große Schlusschor mit dem Triumph der Liebe nicht fehlen - und dennoch versteht Olaf Schmidt sich gerade hier darauf, den Jubel in Nachdenklichkeit zu verwandeln. Bei ihm sind die Choristen das Publikum, das den Sänger nach der Vorstellung am Bühneneingang erwartet, um Autogramme heischt, die ganze Fan-Club-Nummer. Der Sänger - Orpheus - bleibt nach diesem Trubel dann eben doch allein zurück, mit dem Bild der Geliebten, die er auf immer verloren hat. Und so wird diese Barock-Oper auf einmal ganz heutig, ganz aktuell, für jeden nachvollziehbar - auch im 21. Jahrhundert. Denn die großen Gefühle, sie bleiben ja doch immer gleich.

Das Publikum feierte das gesamte Ensemble zu Recht mit Standing Ovations. Wer sich diese rundum geglückte „Orpheus“-Inszenierung anschauen möchte, muss sich allerdings beeilen: Es sind für die gesamte Spielzeit leider nur zehn Vorstellungen angesetzt. Aber vielleicht motiviert der Erfolg die Intendanz ja dazu, das Stück doch noch mit in die nächste Spielzeit zu nehmen.
 

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