„Caravaggio“ von Olaf Schmidt. Tanz: Phon Le Thanh, Rhea Gubler, Julia Cortés, Wout Geers, Gabriela Luque, Pau Pérez Piqué, Claudia Rietschel

„Caravaggio“ von Olaf Schmidt. Tanz: Phon Le Thanh, Rhea Gubler, Julia Cortés, Wout Geers, Gabriela Luque, Pau Pérez Piqué, Claudia Rietschel

Im Farben- und Bewegungsrausch

Olaf Schmidts tänzerische Hommage an Caravaggio

Der Lüneburger Ballettchef hat sich mit seiner jüngsten Kreation über den jungen Wilden unter den Renaissancemalern selbst übertroffen: „Caravaggio“ ist ein Geniestreich und sollte in die nächste Spielzeit übernommen werden.

Lüneburg, 09/03/2020

Seine Bilder sind 450 Jahre alt, und doch sind sie moderner denn je. Michelangelo Merisi (1571 – 1610) aus dem oberitalienischen Ort Caravaggio, nach dem er benannt wurde, war einer der bedeutendsten, vor allem aber einer der wildesten und revolutionärsten Maler des frühen Barocks. Seine Inszenierung des Lichts und der Menschen ist bis heute einzigartig – und in ihrer Radikalität sehr heutig. Kein Wunder, dass so ein Künstler einen Choreografen unserer Zeit inspiriert. Caravaggio zeigt, was er wahrnimmt so radikal und so kraftvoll wie keiner vor und nur sehr wenige nach ihm – mit seiner Kunst war er seiner Zeit weit voraus. Seine Madonnen haben die Gesichter der Prostituierten, denen er auf den schmutzigen Straßen Italiens begegnet. Seine Helden sind die Outcasts des 16. Jahrhunderts. Und gerade weil über sein wildes Leben, das so früh endete, so wenig bekannt ist, regt seine Kunst die Phantasie bis heute an. In diesem Fall die Kreativität von Olaf Schmidt, Ballettdirektor am Theater Lüneburg und Chef eines zehnköpfigen Ensembles, das er mit seinen Arbeiten seit nunmehr sechs Jahren zu immer neuen Höhenflügen anstachelt.

„Caravaggio“ ist sein jüngstes Werk und so erfolgreich, dass die Intendanz – und das hat es für das Ballett noch nie gegeben – im April sogar einen Zusatztermin im Kalender freigemacht hat, weil alle Vorstellungen in Nullkommanichts ausverkauft waren. Wie Olaf Schmidt die Zuschauerzahlen beim Ballett in Lüneburg ohnehin in Rekordzeit verdoppelt hat – auch das eine bundesweit vermutlich einmalige Erfolgsgeschichte. Dieser Mann ist ein Glücksfall für den Tanz.

Was diese Inszenierung so besonders macht, ist die Kombination aus farbenprächtigen Bildtableaus, kraftvoller, ausdrucksstarker Bewegungssprache und hintergründigem Humor (die mal zu Engeln, mal zu Stadtstreichern verkleideten hervorragenden Statisten, die auch nicht davor zurückschrecken, in Schlabberunterhosen ganz und gar irdisch zu posieren). Die Frage, die Olaf Schmidt hier zentral beschäftigt hat, war: Wann, wie und wodurch wird aus Realität Kunst? Die Antwort geben die Tänzer*innen, gibt dieser ganze knapp zweistündige Abend.

Olaf Schmidt nimmt die Zuschauer*innen mit auf die Reise durch dieses kurze, radikale Künstlerleben, das von Extremen gezeichnet ist und sich in hohem Maße auf der Straße abspielt, aber auch den Klerus beeindruckt (grandios die Szene mit einem in Frauenkleider gehüllten Kardinal und seinen Untergebenen, getanzt von Frauen). Er zeigt Aufstieg und Absturz, Licht und Schatten, Liebe und Hass, Sanftmut und Wut, Harmonie und Zerstörung. Es ist dieses Abgründige und Hochfliegende zugleich, das sich in allem spiegelt, was auf der Bühne zu sehen ist – am eindrucksvollsten sicher in dem Moment, in dem die Tänzer*innen ihre Körper mit Farbe einschmieren und damit ein Bild „malen“ – es sieht in jeder Vorstellung anders aus, und man wünscht sich, es gäbe später mal eine Ausstellung davon. Hochexpressive, dynamische Pas de deux wechseln sich ab mit nicht minder intensiven Ensembles, es ist ein Aufsteigen und Untergehen, Ringen und Straucheln, Kämpfen und Sich-Hingeben, eine magische Mischung aus Aggression und Zärtlichkeit. Olaf Schmidt geht hier der Seele Caravaggios auf den Grund, er schaut hinter die Bilder, auf der Suche nach dem Wesentlichen. Und er findet dafür genau die richtige Balance – nie wirkt das gekünstelt oder gar manieriert. Seine Tänzer*innen erfüllen ihm dabei jeden Wunsch – technisch wie darstellerisch brillant, jede*r einzelne. Immer wieder finden sie sich zu Tableaus zusammen, die den Bildern von Caravaggio nachempfunden sind – auch das von bestechender Eindrücklichkeit, ohne je künstlich zu wirken.

Kongenial dazu das ebenso schlichte wie raffinierte Bühnenbild von Manuela Müller und vor allem die Musik – Ausschnitte aus Max Richters „The Four Seasons – Recomposed“ sowie verschiedene andere Werke aus Barock bis Moderne, hervorragend gespielt von den Lüneburger Symphonikern unter der Leitung von Ulrich Stöcker. Grandios auch die Lichtregie von Dirk Gowalla – was er da auf die kleine Lüneburger Bühne zaubert, ist sensationell.

Das Publikum war zur Recht hin und weg und feierte das Ensemble mit Standing Ovations – und das in einer ganz normalen Repertoire-Vorstellung. Möge die Intendanz sich doch bitte überlegen, dieses Stück mit in die nächste Spielzeit zu übernehmen – es ist noch längst nicht oft genug gezeigt worden.
 

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