„Das Innerste des Schweigens“ von Olaf Schmidt. Tanz: Rhea Gubler, Ensemble

Ein Seelenportrait

„Das Innerste des Schweigens“ von Olaf Schmidt beim Ballett Lüneburg

In 20 choreografischen Skizzen entwirft der Lüneburger Ballettdirektor eine Persönlichkeitsstudie von Virginia Woolf. Eine beeindruckende Collage für eine ebenso bedeutende wie tragische Schriftstellerin.

Lüneburg, 23/03/2024

Im Original heißt das Zitat, das diesem Tanzstück den Titel gegeben hat, „The Heart of Silence“, das Herz der Stille. Es stammt aus Virginia Woolfs letztem Roman „Zwischen den Akten“ und beschreibt einen überraschenden Moment von Schweigsamkeit während eines Tischgesprächs. Die Übersetzung „Das Innerste des Schweigens“ trifft den Kern, um den es Olaf Schmidt hier geht, aber fast noch besser. Er habe kein Portrait der Schriftstellerin entwerfen wollen, erklärt er, sondern eher ein Psychogramm ihrer Erzähltechnik, diesen „Stream of Consciousness“, den sie zwar nicht selbst erfunden, wohl aber ganz stark bedient habe, vor allem in ihren Anfang der 1920er Jahre entstandenen Romanen „Mrs. Dalloway“, „Zum Leuchtturm“ und „Die Wellen“. Damals war es noch sehr avantgardistisch, die Sinneseindrücke in den Mittelpunkt zu stellen und nicht eine Handlung. 

Ziemlich anspruchsvoll, dieses Unterfangen, so etwas in Bewegung umsetzen zu wollen. . . Aber Olaf Schmidt gelingt das Kunststück, Virginia Woolfs Gedankenwelt in Tanz zu übertragen, ohne zu übertreiben oder ins Geschmäcklerische abzurutschen. Das ist neben einer schnörkellosen, immer wieder überraschenden Choreografie vor allem das Verdienst seiner fantastischen neun Tänzer*innen, die hier nicht nur technisch, sondern darstellerisch auf ganzer Linie überzeugen. Es ist ebenso das Verdienst von Charlotte Bell, einer gebürtigen Engländerin aus der Gegend, in der auch Virginia Woolf lebte. Mit ihr hat Schmidt schon vor 30 Jahren zu Beginn seiner Choreografenlaufbahn zusammengearbeitet, damals war sie noch Tänzerin, in Ulm, Mannheim, Kaiserslautern und Karlsruhe. Danach bekam sie zwei Kinder und zog sich aus dem Tanz zurück, seit 2001 ist sie als freischaffende Tänzerin, Schauspielerin, Darstellerin und Tanzpädagogin tätig. Diese Mehrfachbegabung nutzend setzt Olaf Schmidt sie als zentrale Figur ein, die klar und verständlich Englisch wie Deutsch auf der Bühne zu sprechen vermag und sich gleichermaßen mit den Tänzer*innen bewegen kann. Sie ist die ältere Virginia, die auf ihr Leben schaut, auf ihre Gefühle, während die großartige Rhea Gubler die junge verkörpert und das nicht minder großartige Ensemble die verschiedenen Charaktere und Gedanken zeichnet. 

Aber natürlich kommt Olaf Schmidt nicht drumherum, auch einige biografische Eckpunkte Virginias auszuleuchten, z.B. ihre Herkunft aus einer kinderreichen Familie, die Eltern und mehrere Geschwister starben schon früh. Oder ihre Bindung an ihren Bruder Toby, der – anders als sie selbst – studieren konnte und sie in seinen Freundeskreis integrierte, den Bloomsbury-Kreis in London, die künstlerische und intellektuelle Avantgarde ihrer Zeit. Auch Toby starb jung, aber die Freunde blieben Virginia erhalten und wurde für sie zur Quelle ihrer Inspiration, was sich in ihren Romanen „Zum Leuchtturm“ und „Die Wellen“ niederschlug: die frühkindlichen Verluste, die Freunde als Ersatzfamilie. Dann die Begegnung mit Leonard Woolf, den sie heiratet und der ihr zur großen Stütze wird, auch in den späten Jahren, als sie eine lesbische Liebesgeschichte mit Victoria Sackville-West erlebt. In Teil 2 nach der Pause nimmt Olaf Schmidt dann Aspekte aus Virginia Woolfs wohl bekanntestem Roman auf: „Orlando“, den sie für Sackville-West verfasst hat. 

Zu einer kongenial passenden Musikcollage (aus Werken von Philip Glass, Arvo Pärt, Edvard Grieg, Edward Elgar, Benjamin Britten, Ethel Smyth und Péteris Vasks), einfühlsam gespielt von den Lüneburger Symphonikern unter Leitung von Gaudens Bieri, zeichnet Olaf Schmidt das Psychogramm einer großen Schriftstellerin, deren dunkle Seite ihre bipolare Störung war, mit der sie immer wieder zu kämpfen hatte, und die schließlich zu ihrem Freitod führte. Seine Tänzer*innen werden diesen verschiedenen Charakterstudien eindrucksvoll gerecht – Chapeau!  

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