Hans und die Königin

Jochen Schmidt berichtet als Gastautor von der großen Hans-van-Manen-Gala

Amsterdam, 12/09/2007

Das hat es bisher in der Geschichte des Balletts noch nicht gegeben: dass ein Choreograf zu seinem 75. Geburtstag mit einem mehrwöchigen Festival geehrt wird, in dem nicht weniger als 21 Ballette vom ihm in 12 Vorstellungen zur Aufführung gelangen, getanzt von Mitgliedern der großen Kompanien rund um den Erdball zwischen St. Petersburg und San Francisco. Wie gerne wäre ich dabei gewesen – allein es hat nicht sollen sein. Deswegen habe ich Jochen Schmidt eingeladen, international geschätzte van-Manen-Autorität Nummer eins, über die Eröffnungsgala zu berichten. Wobei mir wieder bewusst wird, wie sehr wir ihn seit seiner unwürdigen Verabschiedung von der FAZ vermissen – nicht nur in Sachen van Manen. Hier also ist Jochen Schmidt aus Amsterdam über den gestrigen Gala-Abend! Oe, Spitzingsee/Schliersee, 12.9.2007

Hans und die Königin Mit einer Gala und einem Festival feiern die Niederlande den 75. Geburtstag ihres Choreographen van Manen.
Schwer vorstellbar aus deutscher Sicht: ein ganzes Land feiert einen seiner hervorragendsten Künstler, der nicht zufällig ein Choreograph, ein „Tanzmacher“, ist. Drinnen im Muziektheater in Amsterdam, wo sie die Festivitäten zum 75. Geburtstag von Hollands einzigem Choreographen von weltweiter Bedeutung eröffneten, drückten sich die Ehrengäste zunächst einmal die Nase an der Glasfront platt. Denn der Anfang der Geburtstagsgala fand im Freien vor dem Theater und vor größerem Publikum statt. Dort war ein Fanfarenzug angetreten, um dem Jubilar „Hoch soll er leben“ zu spielen, und als die Königin mit ihrem Gefolge eintraf, ging Hans van Manen ihr unter dem Beifall der Menge entgegen, um sie auf ihren Platz im ersten Rang des Opernhauses zu geleiten.

Auf der Bühne war, über drei kurzweilige Stunden hin, natürlich das zu sehen, was der Jubilar jahrzehntelang zuzulassen sich geweigert hatte: ein komplettes van Manen-Programm, getanzt nicht etwa nur von seinen Hauskompanien, dem Niederländischen Nationalballett und dem Nederlands Dans Theater. Auch zwei der weltweit angesehensten Ballettensembles, das des Marientheaters in St. Petersburg und das San Francisco Ballet, hatten Vertreter entsandt, dem derzeit wohl wichtigsten klassischen Choreographen des Erdballs ihre Reverenz zu erweisen. Und als am Ende, nach den drei Dutzend Tänzern der Gala, der Jubilar selbst die Bühne betrat, erhob sich das Publikum in einer einzigen großen Bewegung zur spontansten „standing ovation“ der Theatergeschichte: das beinahe perfekte Ende eines geschichtsträchtigen Abends. (Denn ganz zum Schluss hing Amsterdams Oberbürgermeister van Manen noch den Kommandeurs-Orden der Niederlande, den Königin Beatrix dem Jubilar verliehen hatte, um den stolzen Hals).

Van Manen choreographiert seit ziemlich genau einem halben Jahrhundert, und das Programm, das die Verantwortlichen des Nationalballetts ihm organisiert hatten, bildet sein Oeuvre, soweit das an einem Abend überhaupt möglich ist, nicht nur ziemlich exakt ab, sondern breitete auch seine Qualitäten in voller Schönheit aus: nicht nur die kristalline Klarheit der Formen und Reinheit der Linien, die einzigartige Musikalität, sondern auch jene menschliche Wärme und Humanität, die van Manens beste Werke der Kunstform Ballett zurückerobert haben. Zu sehen waren, nicht in der Reihenfolge ihrer Entstehung, sechs Stücke aus 36 Jahren. Die älteste und die jüngste dieser Choreographien, die „Metaforen“ von 1965 und „Simple Things“ von 2001, eröffneten in unmittelbarer Nachbarschaft das Programm.

Das Opus 15 des 33-jährigen ist sein erster Geniestreich. Es beginnt wie ein durchschnittliches Stück Neoklassik mit Handikap (einer sich drehenden Spiegelachse), und überwindet alle Vorgaben, als es sich traut und zu sich selbst findet, wartet auch gleich mit einem jener Details auf, die zu einem von van Manens Markenzeichen werden sollten: dem ersten – absolut unschwulen – Männer-Pas de deux der Tanzgeschichte. Natürlich ist die Familienähnlichkeit zu den späten „Simple Things“, die Celia Amade, Nina Botkay, Roger van der Poel und Javier Monzon vom NDT II, der Junior-Gruppe des Nederlands Dans Theaters, anschließend mit unvergleichlicher Bravour über die Bühne gleiten ließen, unverkennbar. Gleichwohl sieht man, wie grandios sich der Choreograph in den dreieinhalb Jahrzehnten zwischen den Stücken entwickelt hat.

Das jüngere Werk ist nicht nur virtuoser als das ältere. Es ist gesättigt mit Lebenserfahrung: voller innerer Brüche, tanzt hinweg über Abgründe, von denen die „Metaforen“ noch nichts ahnten – ohne die Brüche zu glätten oder zu überschminken und ohne die Abgründe zuzuschütten; indem sie sie ignorieren, gleiten van Manens Darsteller traumtänzerisch über sie hinweg. Auch die Duos „Sarcasmen“ (1981) und „Two Pieces for HET“ (1997), das erste mit schöner Ironie und beißendem Witz getanzt von Igone de Jongh/Artem Yachmennikow, das zweite in ein dunkles Geheimnis getaucht von Sofiane Sylve/Alexander Zhembrovsky, sämtlich Solisten des Nationalballetts, sind weit entfernt von klassischer Glätte: scharf umrissene Porträts heutiger Menschen. Denn wenn auch van Manens Wort, wonach Tanz vor allem vom Tanz handele, für alle seine Choreographien Geltung hat, so begnügt sich keine seiner Arbeiten mit der reinen Form. Immer steckt in ihnen auch eine Aussage über Menschen.

Dass auch die klassische Komponente im Werk des Jubilars nicht zu kurz kam: dafür sorgten an diesem Abend die Gäste aus Russland und Amerika. Mit der Allüre einer tanzenden Göttin und unvergleichlich fließenden Bewegungen der Arme ließ sich Uliana Lopatkina aus St. Petersburg, die vielleicht bedeutendste Ballerina unserer Tage, von Ivan Kozlov durch die „Trois Gnossiennes“ (1981) mit der Musik von Erik Satie tragen. In der „Großen Fuge“ (1971) zu zwei Beethovenschen Quartettsätzen schließlich transzendierten acht Tänzer des San Francisco Ballet, die Frauen ein wenig perfekter als ihre männlichen Partner, die Kunstform Tanz in einen utopischen Traum: so schön, so harmonisch könnten die Welt und das Zusammenleben der Menschen sein, wenn in unseren Gesellschaften Künstler wie Hans van Manen das Sagen hätten und nicht heuchlerische, debile politische Kraftmeier wie George W. Bush. Jochen Schmidt

 

Kommentare

Noch keine Beiträge