Eine Premiere der anderen Art

Der neue Doppelband des Stuttgarter Balletts ist erschienen

oe
Stuttgart, 05/06/2007

Was lange währt, wird gut, heißt es. Andererseits lautet ein berühmter Ausspruch: Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben! Könnte es sein, dass beides zutrifft? Der neue Doppelband des Stuttgarter Balletts jedenfalls gibt beiden Recht. Er macht sich prächtig, mit dem schicken Maria Eichwald und Jason Reilly Cover in „Voluntaries“ – und kann sich auch sonst mit seiner splendiden Fülle überwiegend ganzseitiger Fotos sehen lassen. Andererseits: er resümiert ja jeweils zwei Spielzeiten, diesmal also 2004/05 und 2005/06. Seither sind zehn Monate ins Land gegangen. Und in der Vergangenheit war es ja immer so, dass der neue Band im Spätherbst und jedenfalls rechtzeitig zu Weihnachten erschienen ist und vielen Ballettfans als willkommenes Weihnachtspräsent diente. Diesmal aber taugte er nicht mal als Osterei.

Da scheint es erhebliche redaktionelle Turbulenzen gegeben zu haben. Man versuche sich einmal vorzustellen: ein Buch über die Fußball-Weltmeisterschaft erscheint zehn Monate nach dem Ereignis! Vielleicht sollten die Herausgeber das nächste Mal ihre Kollegen von der Sportredaktion um Entwicklungshilfe bitten. Hoffentlich wirkt sich der späte Erscheinungstermin nicht auf den Verkaufsumsatz aus. Denn das wäre schade! Immerhin ist es die einzige wirklich komplette Dokumentation – nachdem „Europe‘s Leading Dance Magazine“ die Dokumentation der jeweiligen Spielzeit in seinen Jahresheften bedauerlicherweise eingestellt hat (und damit die Arbeit der Tanzjournalisten erheblich erschwert hat). Aber sie betrifft eben nur Stuttgart – auch das Hamburger Heft der jährlichen Ballett-Tage bietet im Vergleich nur eine sehr summarische Bilanz. Und an Vollständigkeit lässt auch der Doppelband 28/29 nichts zu wünschen übrig.

Ich muss übrigens bekennen, meine Schwierigkeiten mit der Bezeichnung des Doppelbandes als „Annual“ zu haben. Das Wort gibt es in den maßgeblichen deutschen Wörterbüchern nicht. Der Duden springt von „Annotation“ auf „annullieren“ und der Wahrig von „annotieren“ auf „annuell“. Da muss ich schon mein Oxford Dictionary zu Hilfe holen – das definiert „annual“ unter anderem als „book published in yearly numbers“ – in den einschlägigen deutschen Lexika als „Jahrbuch“ übersetzt. Mag ja mein persönliches Problem sein, aber für mich ist „Annual“ automatisch männlichen Geschlechts. Darum dreht sich bei mir jedes Mal der Magen um, wenn es „das Annual“ heißt – fast so schlimm wie, offenbar unausrottbar, „das Pas de deux“. Aber ob nun „das Annual“ oder „der Annual“: inhaltlich bietet der Doppelband alles, was aus diesen beiden Spielzeiten erinnernswert ist.

Da ich selbst zu den Autoren gehöre, beschränke ich mich auf eine rein faktische Inhaltsangabe: los geht´s mit einem Grußwort vom Intendanten, gefolgt vom Vorwort der John-Cranko-Gesellschaft, dann kommt Reid Anderson gleich nochmals in einem ausführlichen Interview zu Worte – quasi eine Bilanz seiner zehn Jahre als Chef der Kompanie. Die Tänzerporträts sind diesmal Sue Jin Kang, Maria Eichwald, Jiri Jelinek und Mikhail Kaniskin gewidmet. Dann gibt es den obligatorischen Rückblick auf die Spielzeit 2004/05 und 2005/06, ergänzt durch nicht weniger als sechzig opulente Bildseiten. Im Anschluss werden Christian Spuck und Marco Goecke als die beiden Hauschoreografen portraitiert und Georgette Tsinguirides zu ihrem sechzigjährigen Jubiläum beim Stuttgarter Ballett geehrt. Zwei Nachrufe gelten Uwe Scholz und Alan Beale, eine Würdigung den Empfängern des Deutschen Tanzpreises 2006 (Anderson, Spuck, Alicia Amatriain und Reilly) und des John-Cranko-Preises (Stuttgarter Ballett), schließlich ein Rückblick auf „30 Jahre John-Cranko-Gesellschaft“.

Und dann geht´s zur Sache: acht, wiederum reich bebilderte Seiten über die Persönlichkeiten der Kompanie, gefolgt von den nicht mehr nummerierten Seiten über die Premieren, das Repertoire, die auswärtigen Gastspiele, die Gäste in Stuttgart, die Veranstaltungen der John Cranko-Schule, die sonstigen Aktivitäten der Kompanie (inklusive dem populären „Blick hinter die Kulissen“), die Veranstaltungen der Noverre- und der John-Cranko Gesellschaft und als Schlusslicht eine Liste der Träger des John-Cranko-Preises. Ach gäbe es doch eine vergleichsweise detaillierte Dokumentation der jeweiligen deutschen Spielzeit (einschließlich ihrer deutschbeinigen Kollegen in Österreich und der Schweiz)! Übrigens gestern Abend die achte Vorstellung der Wiederaufnahme des „Dances at a Gathering“- und „Gaité Parisienne“-Abends in teilweise neuer Besetzung – und wieder diese Beglückung einer ausgesprochen komplementären Programmzusammenstellung und dieser so wunderbar harmonischen Ensemblekultur der zehn Robbins-Tänzer und dem bravourösen, so unwiderstehlich aufs Publikum überschwappenden Elan der Offenbacchanalen. Ich denke zurück an die neue „Sylvia“ in Berlin und an Childs und MacMillan im Münchner Nationaltheater und würde dem Publikum dieser Vorstellungen liebend gern einen Besuch bei Robbins und Béjart in Stuttgart spendieren!

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