Cranko, premier cru

Eine Generation nach ihrer Premiere erweisen sich zwei Cranko-Klassiker als Hochgewächse

oe
Stuttgart, 30/11/2007

Bei ihrer ersten Prüfung Anfang der siebziger Jahre noch mit mancherlei Vorbehalten akzeptiert, sind Crankos „Initialen R.B.M.E.“ und „Carmen“ in den gut dreißig Jahren, die seither vergangen sind, zu einer Reife gelangt, die bei ihrer erneuten Verkostung höchste Begeisterung hervorrief. Und so zu einer Neubewertung gelangt, die man nicht für möglich gehalten hatte – gerade auch im Hinblick auf ihre Nachfolgejahrgänge der Marke Scholz („Siebte Sinfonie“) und Neumeier („Endstation Sehnsucht“). Es war aber nicht nur die Fülle der inzwischen gewonnenen Aromastoffe (sprich: Choreografie), sondern auch die Leichtigkeit und Eleganz ihrer Präsentation, die ihren zusätzlich gewonnenen Mehrwert ausmacht, sondern das ganz und gar erstaunliche Phänomen, dass ihr erhöhter Öchslewert keineswegs eine alkoholisierte dumpfe Narkotisierung bewirkte, sondern eine ungemein animierende Beschwipstheit.

Und so ging man geradezu beschwingt aus der Vorstellung – allenfalls einer leicht melancholischen Stimmung nachhängend, was für exzeptionelle Qualitäten wäre dieser Choreograf fähig gewesen, wäre ihm ein längeres Leben beschieden gewesen! So immerhin wurde einem bewusst, was die neue Tänzergeneration des Stuttgarter Balletts in den dreißig Jahren an technischer Effizienz gewonnen hat. Dass, was ihren Vorgängern noch an Qualifikation ausgesprochen ostentativ geriet (Seht her, was wir alles können!), inzwischen zum Normalstandard geworden ist. So dass sie „R.B.M.E.“, das uns bei der Premiere 1972 noch unmöglich anders zu besetzen schien als mit R(ichard Cragun), B(irgit Keil), M(arcia Haydée) und E(gon Madsen), heute mit größter Selbstverständlichkeit von der Solistenriege der F(ilip Barankiewicz), K(atja Wünsche), S(ue Jin Kang) und A(lexander Zeitsev) bewältigt wird – plus D(ouglas Lee), so dass der Titel sehr wohl Initialen F.K.S.D.A. lauten könnte – nicht zu reden von all den anderen Töchtern und Söhnen der Cranko-Generation, die die – ungeheuerlichen – Komplikationen dieser Choreografie bewältigen, als hätten sie sie mit ihrer Muttermilch eingesogen. Und so erscheint einem dieses „Sinfonische Ballett“ in der Nachfolge von Massine und Balanchine heutzutage als eins der Meisterwerke des 20. Jahrhunderts – anknüpfend an Massines „Choreartium“ (Brahms IV.) und Balanchines „Sinfonie in C“ (Bizet). Und natürlich als Hommage an den von Cranko gestifteten freundschaftlichen Geist der Tänzer im Umgang mit einander und den Respekt vor einem der Großen ihres Metiers, die seit nunmehr bereits fast einem halben Jahrhundert als Markenzeichen des Stuttgarter Balletts fungieren.

Und Ähnliches ist auch der Wiederbegegnung mit Crankos „Carmen“ vom Jahrgang 1972 zu bescheinigen, gekeltert von den choreografischen Winzern Reid Anderson und Georgette Tsinguirides. Hier kommt freilich noch etwas hinzu – nicht zuletzt im Vergleich zu der jüngsten banalen Version in Karlsruhe als „Jeux d‘enfants“ (Bizet als Soft-Porn). Von James Tuggle und dem Staatsorchester pointiert dargeboten, erwiesen sich die „Bizet Collagen“ von Wolfgang Fortner (in Zusammenarbeit mit Wilfried Steinbrenner und Helmut Kirchgässer) als ein ideensprühendes Feuerwerk, ein regelrechtes musikalisches Kaleidoskop, das auch Schtschedrins viel gelobte Bearbeitung weit hinter sich lässt. Als Stuttgarter Jahrgang 2007 hat die Fokussierung auf die Drei-Personen-Konstellation Carmen-Don José-Stierkämpfer so an dramatischer Brisanz gewonnen, dass die dekorativen Füllsel der Ensembleszenen kaum noch ins Gewicht fallen.

Wie Sue Jin Kang sich die Rolle der Carmen anverwandelt hat, legitimiert sie zur doppelten Ehren-Staatsbürgerschaft der spanischen Republik und der Sinti-Allianz. Und genau so scharf profilierte Charakterstudien liefern Marijn Rademaker als verlorener Sohn aus Merimées andalusischer Provinz und Jason Reilly als derart brillanter Stierkämpfer, den es geradewegs aus Hemingways „Tod am Nachmittag“ auf die Bühne des Stuttgarter Staatstheaters verschlagen zu haben scheint. Eine große Produktion, mit der die Stuttgarter Aufführung zur internationalen Exzellenzen-„Carmen“-Elite der Roland Petit, Alberto Alonso und Carlos Saura aufschließt.

 

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