Wenig Spukhaftes in Christian Spucks neuem Abendfüller

E.T.A. Hoffmanns „Sandmann“ - abseits von „Coppélia“

oe
Stuttgart, 07/04/2006

Gäbe es im Ballett eine ähnliche Gütertrennung wie zwischen der Opera buffa und der Opera seria, Christian Spucks neuer Abendfüller „Der Sandmann“ rangierte wohl als Seria im Vergleich zur Buffa der „Coppélia“ des Teams von Nuitter, Delibes und Saint-Léon. Beide basieren bekanntlich auf der Erzählung „Der Sandmann“ von E.T.A. Hoffmann aus dem Jahr 1817 – doch zwischen ihnen liegen zwei Jahrhundertwenden und mit ihnen der sehr unterschiedliche Anspruch des Balletts, wie mit der Literatur umzugehen sei. Und während sich Nuitter-Delibes-St.Léon noch ganz auf die komödiantischen Aspekte der Story von dem jungen Burschen, der sich in eine Puppe verliebt, konzentrieren konnten – wie derzeit in der wonneproppigen Produktion von Peter Wright in Karlsruhe zu erleben –, hat sich Spuck in die Abgründe dieses Nachtstücks gestürzt, zusammen mit seinem Protagonisten, dem Studenten Nathanel, der sich immer mehr in seinen Wahn verrennt, der es ihm unmöglich macht, zwischen der Wirklichkeit und der Fantasie zu unterscheiden und ihn schließlich in den Tod treibt.

Delibes hat für „Coppélia“ noch eigens eine Musik komponiert, die es zur bis heute anhaltenden Wunschkonzert-Popularität brachte (aber auch die Bewunderung so anspruchsvoller Kollegen wie Tschaikowsky und Hanslick fand). Spuck und sein Dramaturg Jens Schroth haben sich dagegen mit Ready-Mades aus dem musikalischen Baukasten begnügt, mit Robert Schumann (der immerhin in seinem Kapellmeister Kreisler eine echt E.T.A.-Hoffmannsche Gestalt porträtierte) und Alfred Schnittke (auch der hielt es ja mehrfach in seinen Kompositionen mit gespaltenen Persönlichkeiten) nebst DJ Martin Donner als Zulieferer der elektronischen Halluzinationen, um so die unterschiedlichen psychologischen Schichten der Handlung akustisch dingfest zu machen.

Wer allerdings erwartet hatte, dass sich Spuck in den Spuren von Murnau („Nosferatu“), Buñuel („Un chien andalou“) und Hitchcock („Vertigo“) auf die Suche nach E.T.A. Hoffmann als Inspirator eines Ballet noir begeben würde, quasi als ein Psychothriller-Autor der Romantik, sah sich getäuscht. Was dabei herausgekommen ist, ist allenfalls ein Ballet gris der tristen Alltagsgewöhnlichkeit – eine biedermeierliche Moderne in Dirk Beckers Wartesaal-ähnlichem Dekor, Emma Ryotts Kostümen von der Stange (mit Ausnahme der glamourösen Ausstaffierung der Puppe Olimpia) und Reinhard Traubs nivellierend unatmosphärischer Beleuchtung.

Das heißt nicht, dass es langweilig zugeht in Spucks Zweiteiler – ganz und gar nicht. Da gibt es ein paar spannungsreich aufgeladene Ensembleszenen wie den musikalisch ausgesprochen Schostakowitsch-inspirierten Walzer im noch sehr prologhaften ersten Akt und jede Menge unterschiedlicher Pas de deux. Wie denn Spuck in der Charakterisierungspointiertheit der Figuren seit seiner „Lulu“ ein gutes Stück vorangekommen ist – auch in der choreografischen Leitmotivik mit ihren eigenartigen Henkel-Sprüngen. Und mit dem süperben Jason Reilly zusammen hat er die Coppola-Rolle so bizarr modelliert, dass man ihn glatt für den legitimen tänzerischen Erben von Werner Kraus und Klaus Kinski halten könnte.

Wie denn überhaupt brillant getanzt wird – nicht nur von Alexander Zaitsev als psychopathischem Nathanel und den beiden konkurrierenden Frauen – Katja Wünsche, die als Clara tatsächlich wie eine andere Clara Wieck erscheint, und Maria Eichwald mit ihrer Olimpia als Spezialanfertigung aus dem Atelier von Käthe Kruse –, sondern auch von den anderen Solisten, mit Bridget Breiner und Evan McKie als Eltern, Nikolay Godunov als Coppelius und Damiano Pettenella als Spalanzani nebst einem Corps, das sich mit Wonne in Spucks Grands Ensembles stürzt.

Und am Schluss, bei der umjubelten Vorhangparade, gesellt sich zu den Tänzern und den Musikern auf der Bühne noch eine leibhaftige E.T.A.-Hoffmann-Gestalt im Frack, die man mit Hilfe des Personenzettels als James Tuggle, Dirigent des Staatsorchesters, identifiziert. Jetzt mal abwarten, was Stefan Thoss aus dem Stoff macht, wenn er am 24. Februar 2007 bei Kresnik in Bonn sein „Mädchen mit den Emaille-Augen“ zur Uraufführung bringt.

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