Junge Talente im Märchenwald

„Giselle“ an der Pariser Oper in neuen Besetzungen

Paris, 26/12/2006

Wie jedes Mal an Weihnachten setzte die Direktion der Pariser Oper auch dieses Jahr einen großen Ballettklassiker auf den Spielplan. Bekanntlich erzählt „Giselle“ die Geschichte eines Bauernmädchens, das von einem als Bauern verkleideten jungen Adligen verführt wird und, als sie von dessen wahrer Identität und Verlobung erfährt, an ihrem gebrochenen Herzen stirbt. Wie das zehn Jahre früher geschaffene Ballett „La Sylphide“, in dem sich die Tänzerin erstmals auf Spitze erhob, um ihre übernatürliche Leichtigkeit darzustellen, gewinnt auch „Giselle“ einen besonderen Reiz durch die Zweiteilung in einen ersten, „naturalistischen“ Akt und einen zweiten Akt, der in einem von Geistern in weißen Tüllröcken bevölkerten Märchenwald spielt. In jenem zweiten Akt, für den sich der Librettist Théophile Gautier von seinem Freund Heinrich Heine und dessen Beschreibung von Elementargeistern in westfälischen Wäldern inspirieren ließ, rächen die Wilis, vor der Hochzeit verstorbene betrogene Bräute, ihr bitteres Schicksal an jedem Mann, der sich in ihr Reich wagt, indem sie ihn zwingen, sich zu Tode zu tanzen. 165 Jahre nach der Uraufführung in Paris tanzt das Ballett der Pariser Oper das Stück in einer von Patrice Bart und Eugène Polyakov 1991 geschaffenen Adaptation der Originalchoreographie von Jean Coralli und Jules Perrot, mit 1924 von Alexandre Benois kreierten Kostümen und Bühnenbild.

Dieses Paradestück der Kompanie bietet stets eine willkommene Gelegenheit für die langjährigen Etoiles, ihre Konzeption der Hauptrollen zu verfeinern und mit den großen Interpreten der Vergangenheit zu rivalisieren. Doch hatten dieses Jahr, unter anderem aufgrund zahlreicher Verletzungen, einige jüngere oder weniger etablierte Tänzer die Gelegenheit, sich in wichtigen Rollen dem Publikum vorzustellen. So erlebte man zum Beispiel an einem Abend zugleich Rollendebüts des Albrecht, der Myrtha sowie im Bauern-Pas-de-deux. In dieser hauptsächlich von jungen Tänzern geführten Besetzung hatte nur die Première Danseuse Mélanie Hurel bereits Erfahrung mit der weiblichen Hauptrolle, deren Schwierigkeiten sie dank ihrer soliden Technik und Präzision problemlos meisterte. Ihre sehr natürliche Interpretation der Giselle als zurückhaltendes, verinnerlichtes Bauernmädchen wirkte durchaus glaubhaft, doch kam ihre Liebe zu Albrecht manchmal zu schwach zur Geltung. An ihrer Seite debütierte der junge Danseur Etoile Mathieu Ganio als Albrecht. Wenn es ihm auch im ersten Akt noch etwas an der Souveränität eines adligen Verführers und eines langjährigen Etoile fehlte, gewann er vor allem im zweiten Akt an Sicherheit. Er fühlte sich sichtlich wohler in der Rolle des reuigen, hingebungsvollen Prinzen, der über seiner Verzweiflung die Gefahr für sein eigenes Leben vergisst. So glaubt man ihn wirklich um ein Haar dem Tod entronnen, wenn er nach einer exzellenten Variation – übrigens dieselbe, mit der er vor vier Jahren in seinem ersten Concours großes Aufsehen erregte – und einer beeindruckenden Folge von Entrechats auf der Bühne zusammenbricht.

Laura Hecquet, die an diesem Abend erstmals als unbewegbare Königin der Wilis seinen Tod forderte, zählt ebenfalls zu den großen Hoffnungen der Kompanie. Die wie Ganio erst 22-jährige Halbsolistin, die kürzlich auch als Manon in Neumeiers „Kameliendame“ zu sehen war, verdankt ihre wichtige Rolle wohl unter anderem ihrer ausgezeichneten Darbietung im Pas de deux von Balanchines „Diamonds“ im Ballettabend „Junge Tänzer“ im letzten Mai. Der zartgliedrigen und grazilen Tänzerin gelang es einerseits, die Härte und Unerbittlichkeit Myrthas darzustellen, andererseits spürte man hinter dieser undurchdringlichen Fassade eine fast etwas zu lebendige Spannung und Leidenschaft, ein Aufflammen der Erinnerung ihrer eigenen Enttäuschung und ihres Schmerzes, der ihren Hass auf Albrecht und Hilarion verständlich macht.

Erwähnung verdient überdies Samuel Murez als Wildhüter Hilarion, der, ebenfalls verliebt in Giselle und unschuldiges Opfer der Wilis, die Katastrophe beschleunigt und das Schicksal veranschaulicht, das Albrecht durch Giselles Liebe erspart bleibt.

Darüber hinaus spiegelt sich das Hauptpaar noch im jungen Bauernpaar des ersten Aktes, das in einem virtuosen Pas de deux eben jene geteilte, diesseitige Liebe darstellt, die Giselle und Albrecht verwehrt bleibt. Trotz einiger Unsicherheiten verliehen sowohl die erst 17-jährige Aubane Philibert als auch der 19-jährige Mathias Heymann diesem zuweilen etwas langwierigen Pas de deux Charme und Leichtigkeit, und besonders Heymann erstaunte durch seine Geschmeidigkeit, seine hohen und weiten Sprünge sowie durch seine blitzschnelle und präzise Petite Batterie. Wenn diese sehr junge Besetzung auch nicht die absolute Meisterschaft beispielsweise der erfahrenen Paare Aurélie Dupont und Manuel Legris oder Agnès Letestu und José Martinez erreichte, so enthüllten doch die Rollendebüts dieses Abends die Talente einiger vielversprechender junger Mitglieder der Kompanie, die ihren Elan auf das Publikum übertrugen. Auch das Corps de ballet und das Orchester unter der Leitung von Paul Connelly waren in bester Form und trugen so zum Gelingen dieser „Giselle“-Serie bei. Man kann sich also freuen, dass die Direktion der Pariser Oper eine ihrer Glanzbesetzungen auf DVD verewigen wird: in den Hauptrollen das für dieses Ballett wie geschaffene Paar Laetitia Pujol und Nicolas Le Riche, im Bauern-Pas-de-deux die exquisite Myriam Ould Braham und der perfekte Emmanuel Thibault, der erfahrene Wilfried Romoli als Hilarion, sowie die majestätische, technisch vollendete Marie-Agnès Gillot in der Rolle der Myrtha.

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