Die Macht der Perspektive

Christian Spuck wagt sich an E.T.A. Hoffmanns „Sandmann“

Stuttgart, 06/04/2006

Es gibt Kritiker, die ihn schon als würdigen Nachfolger John Crankos handeln, weil er die große Stuttgarter Tradition des Handlungsballetts fortschreibe. Und manchen darunter gilt er sogar als „der begabteste Ballett-Choreograf Deutschlands“, wie eine der größten deutschen Zeitungen kürzlich titelte. Tatsache ist: Christian Spuck, seit fast fünf Jahren Hauschoreograf beim Stuttgarter Ballett, wagt sich an sein drittes abendfüllendes Ballett, das am kommenden Freitag zur Uraufführung kommen wird: „Der Sandmann“, Kunstmärchen und eines der Nachtstücke von E.T.A. Hoffmann.

Die mysteriöse Geschichte um den Studenten Nathanael, der seit dem Tod des Vaters erst unter Albträumen, dann unter Wahnvorstellungen leidet, sich gar in den überirdisch schönen Automaten Olimpia verliebt, um sich schließlich von einem Turm zu stürzen – Hoffmanns schauerromantische Erzählung von 1816 hatte Christian Spuck schon am Strand von Griechenland während eines Sommerurlaubs gefangen genommen, wie der gebürtige Marburger, der nun schon seit rund 15 Jahren in Stuttgart lebt, erzählt: „Da steckt so viel drin: Kritik an der Biedermeier-Gesellschaft, an der Romantik, Auseinandersetzung mit der Aufklärung, das Problem der Wahrnehmung. Anhand der Novelle von Hoffmann hat Sigmund Freud versucht, das Unheimliche zu erklären. Also hat Hoffmann der Psychologie vorgegriffen, der Künstler hat ein psychologisches Phänomen vorweggenommen, bevor es die Wissenschaft überhaupt entdeckt hat. Das macht es natürlich sehr spannend, auch heute noch.“ Allerdings lässt sich Spuck davon beim Choreographieren weniger beeinflussen: „Ich muss mich erst emotional in einem Stück sicher fühlen, dann füttere ich mich ein Jahr lang mit solchen Hintergrundinformationen, bis ich weiß, wo es hingeht. Das Wissen ist dann im Kopf und im Bauch deponiert. Und im Ballettsaal kommen die Bilder später von selbst.“

Doch ob Spuck, der mit seinem ersten Handlungsballett für das Stuttgarter Ballett „Lulu. Eine Monstertragödie“ weit mehr als einen Achtungserfolg erzielte, sich einen Gefallen mit dieser Stoffwahl tut, ist fraglich. Schließlich lebt Hoffmanns Erzählung doch vom Wechselspiel zwischen Realität und Fiktion, was das Unheimliche gerade ausmacht. Der Leser ist hin- und hergerissen, schwankt, ob er sich der Faszination des Künstlichen und Übernatürlichen hingeben oder alles als verstörte Wahrnehmung eines einzelnen abtun soll – das dürften auch die vielen Abiturienten wissen, die sich derzeit in ihren schriftlichen Prüfungen mit dem „Sandmann“ beschäftigen.

Wie ist das aber, wenn man die Erzählung in Körper und Tanz gießt, auf einer Bühne stattfinden lässt? Kein Problem für Christian Spuck und seinen Dramaturgen Jens Schroth, die mehr auf die tragische Künstlerseele Nathanael und auf das Thema der Perspektivwechsel fokussieren wollen: „Nathanael ist eine schillernde Figur. Am ehesten könnte man ihn als Träumer bezeichnen. Und da geht es zunächst darum, eine Körpersprache zu finden, die sich prinzipiell von der Körpersprache der anderen Figuren unterscheidet. Aber eben nicht in einer extremen Form, dass man sofort merkt, der ist ein Freak, er ist wahnsinnig. Wir wollen ihn nicht denunzieren, sondern die innere Tragik dieser Figur zeigen, vielleicht auch seine Welt erklären.“ Folgerichtig steht bei Spuck der Zusammenbruch Nathanaels am Anfang; Blenden zeigen die Ereignisse und vielleicht auch die Ursachen, die dazu führten. Das allerdings, ohne die Geschichte über Kostüme und Bühnenbild zeitlich einzuordnen. Und auch ohne Sprech- und Gesangspartien sowie den Neuen Medien, die das Unheimliche noch stärker pointieren könnten. Allein der Tanz soll im Vordergrund stehen und Erzählmedium sein.

Allein der Musik wird noch eine analytische Funktion zuteil: Choreograf Spuck setzt dabei auf Klaviersoli und -quintette von Robert Schumann, Filmmusik von Alfred Schnittke zu „Die Kommissarin“ und die elektronischen Kompositionen des Berliners Martin Donner, der Schumann- und Schnittke-Segmente verarbeitet. Keineswegs jedoch ein zwingender Tribut an die zeitgenössische Musik, wie Jens Schroth betont: „Donner ist für uns die glückliche Verbindung der beiden anderen Komponisten und somit auch wesentlich für die Kohäsion des Stücks. Seine Kompositionen klingen oft sehr orchestral, obwohl man schon noch einzelne Basiselemente erkennen kann, letztendlich aber nicht mehr genau weiß, woher die Musik kommt. Sie überzeugt durch eine hohe atmosphärische Dichte und eine Theatralik, die uns hilft.“ Und die will Spuck nutzen, um die Wahrnehmungsstörungen und -verschiebungen seines Protagonisten zu illustrieren. Dabei geht es ihm nicht um eine lineare Nacherzählung der Hoffmannschen Novelle, obwohl sich das durchaus anböte, wie der Choreograf meint.

Allerdings will er sich aber auch nicht soweit davon entfernen wie der Ballettklassiker „Coppélia“, der aus dem „Sandmann“ rein das Puppenmotiv entlehnt. Basis ist vielmehr das Libretto der Oper „Les contes d‘Hoffmann“, von dem aus Spuck sein Handlungsballett entwickelt. Und das angeblich ganz ohne den steten Blick auf den choreografischen Übervater Cranko, obwohl Hauschoreograf Spuck da schon einen gewissen Druck verspürt: „Er war einfach ein genialer Choreograf und hat große Arbeiten geliefert. Ich habe das als Tänzer beim Stuttgarter Ballett gelernt. Das ist mein Handwerk. Aber ich habe gar nicht vor, in Crankos Fußstapfen zu treten, weil ich das nicht kann, und weil ich das nicht möchte. Mir geht es einfach darum, den „Sandmann“ so auf der Bühne zu zeigen, wie ich mir das vorstelle. Und da muss man vielleicht auch mal Erwartungshaltungen enttäuschen.“

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