Qualität und Nachhaltigkeit

Die Ballettwoche 2006 mündet in eine Forsythe-Ausstellung

München, 01/05/2006

„Von Petipa zu Forsythe“: Dieses Motto, das einen zeitlichen wie qualitativen Rahmen setzt und im Spielplan des Bayerischen Staatsballetts oft realisiert wird, schien auch für die Ballettwoche 2006 zu gelten, besonders wenn man sich vergegenwärtigt, was auf die Uraufführungen von „Bombana/Simon/Godani“ folgte.

Für die Eröffnungspremiere schuf Davide Bombana mit „Century Rolls“ ein hochmusikalisches neoklassisches Ballett, das man als Hommage an Balanchine betrachten und dessen dynamischer Weiterentwicklung man die langjährige Faszination Bombanas durch William Forsythe ansehen kann. Die Ästhetik seines Stücks - ganz auf der Höhe des heute technisch Machbaren - ist zudem durch Künstler geprägt, die alle mit Forsythe gearbeitet haben: Stephen Galloway, dessen Kostüme durch raffinierte Farbkombinationen und Materialien faszinieren, Michael Simon als Bühnenbilder und Chris Ziegler mit Video- und Computerprogrammen. So hat „Century Rolls“, das auch im furiosesten Tempo nichts von seiner glänzend choreografierten Struktur verliert, das Zeug zu einem tänzerischen Markenzeichen.

Ob sich das von Michael Simon inszenierte, stark polarisierende „In the Country of the Last Things“ als Angebot an die analytisch-intellektuelle Lust des Publikums lange halten wird, bleibt dagegen, so wünschenswert es wäre, abzuwarten. Als dritte Uraufführung hat der ehemalige Forsythe-Tänzer Jacopo Godani, dessen Arbeit für die mitwirkenden Tänzer bestimmt ein wertvoller Prozess war, mit „Elemental“ ein Resultat hinterlassen, das m. E. einer Überarbeitung bedarf.

Nach der weniger brisanten Wiederholung der Premierenstücke am zweiten Abend (kaum noch Buhs!) wurde „Limb‘s Theorem“ gezeigt. Es war die größte Tat Ivan Liskas, dass er vor anderthalb Jahren seiner Kompanie als erster ein abendfüllendes Ballett von William Forsythe sicherte und seine Tänzer auf diese Übernahme so gut vorbereiten ließ, dass ein Nonplusultra des Gegenwartstanzes sein neues Zuhause fand. In dieser Vorstellung - Forsythe war da! - tanzten die Münchner so präzise und geistesgegenwärtig, dass es eine Lust war. Am auffallendsten waren dabei Lisa-Maree Cullum, Julia Carnicer und Lukas Slavický, doch verdiente das gesamte Ensemble, in dem beispielsweise Martin Blahuta aus dem großen Schatten des wildesten „Wild Man“ (Alen Bottaini) heraustrat, entschiedene Bewunderung.

Darauf folgte John Crankos „Romeo und Julia“ in großartiger Besetzung. Keine Tänzerin der letzten 20 Jahre hat sich beim Münchner Publikum einen vergleichbaren Status erarbeitet, wie ihn Maria Eichwald, die vor zwei Jahren nach Stuttgart ging, immer noch hat. Darüber sollte man nicht übersehen, dass ihr in Alen Bottaini ein ebensolcher Ausnahmetänzer als Partner an der Seite stand. Was für ein Fest es für die Münchner Fans war, ihre Lieblinge wieder gemeinsam auf der Bühne zu sehen, ließ sich u. a. daran ablesen, dass dieser Abend schon seit Wochen ausverkauft war. Und die hohen Erwartungen wurden erfüllt: Vor klar gezeichneten Ensemble-Formationen und einem Tigran Mikayelyan, der als Mercutio technisch, stilistisch und durch seine gesamte Rollengestaltung überzeugte, begeisterte das Titelpaar! Zur „Terpsichore-Gala VI“ steht Angela Reinhardts Kritik im Netz. Aus meiner Sicht ist zu ergänzen, dass mit „Vom Wert der Überlieferung“ als Titel dieser Gala nicht der Wert alter Werke, sondern die persönliche Weitergabe von Choreographien durch Tänzer, die an deren Entstehung beteiligt waren, gemeint war. Eine Reihe von Highlights zeigte dramaturgisch stimmig Beispiele verschiedenster Varianten dieses Prozesses.

Am Samstagabend schlug die Stunde Marius Petipas und des klassischen Balletts in München. Mit Lucia Lacarra sowie Cyril Pierre, Lukas Slavický und Zuzana Zahradnikova an der Spitze bestätigte das Ensemble mit einer durch Ray Barra aufgefrischten „Raymonda“ den Ruf des Bayerischen Staatsballetts, in Deutschland die elegantesten und glanzvollsten Klassiker-Aufführungen zu zeigen.

Am Sonntag belegte eine Matinee der Heinz-Bosl-Stiftung (wie die „Terpsichore-Gala“) erneut den Wert der Überlieferung und führte die Gründe für den Erfolg der Münchner Ballettakademie, deren 15 diesjährige Absolventen alle bereits an namhafte Kompanien engagiert sind, beeindruckend vor Augen. Als am Abend Lucia Lacarra und Cyril Pierre mit Lukas Slavický und Sherelle Charge die Hauptrollen in „Die silberne Rose“ tanzten, bot die Tatsache, dass dies die zweite Vorstellung an einem Tag gewesen wäre, willkommenen Grund für eine Pause, denn bei dieser Kreation Graeme Murphys - gleichwohl ein Publikumserfolg - hat das allzu oft beschworene Uraufführungspech des Staatsballetts m. E. wirklich einmal zugeschlagen.

Am Montag sprang Cyril Pierre mit Lucia Lacarra in „La Bayadère“ ein, weil Roman Lazik verletzt war. Die beiden, die seit acht Tagen nur in „Limb‘s Theorem“ nicht auf der Bühne waren, entschlossen sich, die Hauptrollen des Solor und der Nikiya (zum ersten Mal seit Januar!) ohne jede Probe zu tanzen und avancierten, indem sie den zweiten großen Petipa-Klassiker „retteten“, zu Helden dieser Ballettwoche.
Am 26. Mai eröffnete die Pinakothek der Moderne (PDM) das Installations- und Ausstellungsprojekt „Proliferation and Perfect Disorder“. So viel Forsythe war nie in München. Nach „Limb‘s Theorem“, dem russischen „Exactitude“-Beitrag zur „Terpsichore-Gala“ und all seinen Einflüssen auf das neue Programm „Bombana/Simon/Godani“, das im Mai noch dreimal zu sehen ist, bleibt er in der PDM bis zum 16. Juli 2006 präsent.

Diese erste umfassende Zusammenarbeit eines europäischen Kunstmuseums mit dem weltweit bedeutendsten Choreografen der Gegenwart ging aus dem Wunsch Bettina Wagner-Bergelts (Dramaturgin des Staatsballetts) hervor, zu „Limb‘s Theorem“ ein Rahmenprogramm unter dem Titel „Der Choreograf verlässt die Bühne“ zu veranstalten. Der Blick auf die nicht für die Bühne geschaffenen Werke von William Forsythe brauchte einen größeren Rahmen. Die Direktion der PDM, die ja Prozesse der Avantgarde ins öffentliche Bewusstsein hebt, nahm die Idee begeistert auf: Improvisation, Spontaneität, Grenzen aufbrechen… Für dieses „Denken in Bewegung“ fand Forsythe in der PDM, wo auch der Betrachter in Bewegung die Objekte erkunden kann, den idealen Raum.

Bis zum Ende der von Forsythe selbst eröffneten Ausstellung wird die interaktive Installation „City of Abstracts“ die Museumsbesucher auf der Großen Treppe zum Tanzen animieren, denn nur wenn sie sich bewegen, passiert mit ihnen etwas. Die filigrane Installation „You Made Me a Monster“ im Saal Temporär 1 besteht aus zehn dreidimensionalen Objekten, deren Schatten der Ursprung für endlose Labyrinth-Zeichnungen auf einer Wand wurden. In eindrucksvollen Live-Interventionen setzen die ehemaligen Forsythe-Tänzer Christopher Roman und Nicole Peisel bis zum 7. Mai diese Wandzeichnungen in spontane Tanzimprovisationen um.

Resümee: Mit zwei eleganten Klassikern, zwei neoklassischen Werken (Cranko und Bombana) und einer hohen Dosis Avantgarde, mit langfristig konsequenter Dramaturgie, Ideenreichtum und Mut zum Risiko hat das Bayerische Staatsballett seinen Anspruch darauf unterstrichen, als eine führende Kompanie Deutschlands gelten zu können. Die nächste Spielzeit wird unter dem Motto „Die Welt des Marius Petipa“ wieder die Klassik ins Zentrum rücken. Dann können die Münchner Tänzer ihr durch vielfältige neue Erfahrungen geschärftes (Selbst-)Bewusstsein in eine lebendig und modern wirkende Vergegenwärtigung der Tradition einbringen und sich weiterhin auch im Zeitgenössischen bewähren.
 

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