Aus dem Kabinett des Dr. Hoffmann

Marco Goeckes neuer „Nussknacker“

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Stuttgart, 18/12/2006

Vor genau vierzig Jahren, 1966, startete John Cranko in Stuttgart die Demontage von Tschaikowskys „Nussknacker“-Ballett, dem populärsten aller Weihnachtsklassiker. Ohne sonderlichen Erfolg. Denn die Produktion verschwand als Ballett für alle Jahreszeiten schon bald wieder vom Repertoire – trotz des merveilleusen Blumenwalzers als Pas de six (mit Ilse Wiedmann und Jan Stripling, Sveinbjörg Alexanders und Maximo Molina, Susanne Hanke und John Neumeier): zweifellos eine von Crankos schönsten klassischen Choreografien.

Auf die Konkurrenten, die versuchten, das St. Petersburger Modell von 1892 behutsam zu revidieren, mit mehr oder weniger Bezügen zur Originalstory von E.T.A. Hoffmann, die Weihnachtsfeier der bürgerlichen Familie Stahlbaum aber durchweg beibehielten, hatte das wenig Einfluss. Sie versuchten alle, von Nurejew bis zu Grigorowitsch, die Handlung dramaturgisch ein bisschen aufzuwerten und ihr nachträglich psychologische Glaubwürdigkeit zu implantieren. Vergeblich! Und am allerwenigsten gelang das Balanchine, dessen Produktion für das New York City Ballet als der große Dinosaurier der amerikanischen Ballettszene überlebt. Erst Mark Morris, der Wunderboy aus der Neuen Welt, schaffte es, mit seiner Produktion von „The Hard Nut“ 1991 in Brüssel, den guten alten „Nussknacker“ in die Glitzer- und Glamourwelt des Pop-Zeitalter zu transferieren (übrigens mit einem gewissen Joachim Schlömer als Roboter) und zu einer Ballettikone des ausgehenden 20. Jahrhunderts aufzuwerten.

Und nun also Marco Goecke, Stuttgarts Spezialist für die Rückenansichten des Balletts – sozusagen mit einem Retro-Nussknacker. Und das sehr wörtlich, denn seine Dramaturgin hält sich in ihrem Programmheftbeitrag viel auf ihr Konzept eines „Nussknackers“ zugute, der auf dem Umweg über Dumas den Älteren und Tschaikowsky direkt auf E.T.A. Hoffmanns „Nussnacker und der Mäusekönig“ zurückgreift. So wird aus dem neuen Stuttgarter „Nussknacker“ ein schwarzes Nacht- und Spukstück aus der Umgebung der „Fantasiestücke in Callot‘s Manier“ alias „Das Kabinett des Doktor Hoffmann“ – genau das Ballet noir, das uns Christian Spuck in seinem ebenfalls von Hoffmann inspirierten „Sandmann“ schuldig geblieben ist.

Auf der Strecke geblieben ist dabei das Weihnachtsstück. Tschaikowsky jedenfalls wäre wohl bass erstaunt darüber gewesen, was sich Goecke da alles zu seiner Musik hat einfallen lassen. Dabei kann man wahrlich nicht behaupten, dass er gegen die Musik choreografiert hat – er hat sie eben nur anders gehört (als sie Tschaikowsky ausgesprochen illustrativ zu Petipas penibel ausgearbeiteten Szenarium komponiert hat): mit den umweltverschmutzten Ohren des 21. Jahrhunderts. Und es bedarf schon einer genauen Kenntnis des Originallibrettos, um dessen Personnages zu identifizieren (sehr hilfreich sind dabei die Kostüme von Michaela Springer).

Das Publikum kommt da aus dem Staunen nicht heraus! Wenn schon nicht die Ohren angehörs des aus den Lautsprechern dröhnenden Medleys aus Tschaikowsky, Elvis Presley, Mahalia Jackson und Shorty Rogers übergehen, so doch die Augen angesichts einer Choreografie, die die Tänzer des Stuttgarter Balletts mit dem Kernkraftwerk von Neckarwestheim kurzschließt. Und so tanzen sie denn alle, an die zwei Dutzend, darunter immerhin Elena Tentschikowa, Roland Havlica, William Moore, Alicia Amatriain und Stefan Stewart, genuine Diables – nicht boiteux, wie noch während der Romantik – sondern d‘électricité, dass sich die große Zittergrippe wie eine Epidemie von der Bühne aus über den ganzen Raum des Kammertheaters ausbreitet und man schließlich, wie von einem Schüttelvirus infiziert, an allen Gliedern schlotternd das Haus verlässt.

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