Alles oder Nichts - Von Partnerschaft und unüberwindlicher Fremdheit

Zwei Uraufführungen von Henning Paar und Marco Goecke beim Braunschweiger Ballett

oe
Braunschweig, 06/05/2006

Der Titel „Schattengänger“ des neuen Braunschweiger Ballettabends verlockt natürlich geradezu, ihn in „Doppelgänger“ umzumünzen, wird er doch von zwei jungen Choreografen bestritten: dem Braunschweiger Ballettchef Henning Paar (der 2007 ans Münchner Theater am Gärtnerplatz wechselt) und Marco Goecke, Hauschoreograf des Stuttgarter Balletts. Für Doppelgänger kann man die beiden freilich nicht halten, dazu sind sie zu verschieden.

Und so choreografiert Paar sein Tanzstück „Ich will meine Seele tauchen“ zu ausgewählten Liedern von Robert Schumann, gesungen vom Bariton Henryk Böhm, der von Kyung-Sook Choi am Flügel begleitet wird und aktiv einbezogen ist in die Choreografie als Partner des Tänzer-Quartetts Maida Kasarian, Rory Stead, Andrea Svobodová und David Williams. Es ist eine höchst anspruchsvolle Rolle, da er laufend in das Tanzgeschehen integriert ist, zum Teil sogar Tänzer tragen muss und dabei doch immer singt – und zwar sehr textfeinfühlig und stimmungssuggestiv. Es ist ein sehr schönes Ballett, barfuß getanzt, das den Gefühlsinhalten der Lieder nachspürt, ohne sich ihnen illustrativ auszuliefern. Ein bisschen lang vielleicht, aber durchaus zum Hinhören einladend: der Tanz als eigenständiger Partner, die unaussprechlichen Dimensionen von Text und Musik auslotend.

Ganz anders Goecke, der auf Musik ganz verzichtet und stattdessen simultan – nicht synchron und schon gar nicht illustrativ – zu einer Lesung von Ingeborg Bachmann tanzen lässt – zu einer Eigeninterpretation ihrer Erzählung „Alles“ in einer Rundfunkaufnahme aus dem Jahr 1959. Sie handelt von einem jungen Vater, der seinen Sohn frei von allen, aber auch allen Bindungen, wie sie sich über die Jahrtausende hinweg, von Adam und Eva angefangen, entwickelt haben, aufwachsen lassen will, und der daran dann auch prompt scheitert (ebenso wie der Sohn). Dafür, dass er „Alles“ für seinen Sohn will, erreicht er im Grunde nichts. Es ist ein sehr gewichtiger, traurig stimmender Text, den die Autorin rasch und nüchtern (in unnötig wechselnden akustischen Perspektiven) vorträgt. Sehr beeindruckend! Was er mit der Choreografie von Goecke für sechs Tänzer und zwei Tänzerinnen zu tun haben soll, habe ich nicht ergründen können. Denn die ist absolut selbständig, eröffnet keine neue Dimension und könnte sehr gut auch ohne sie existieren. Von einer Partnerschaft, die sich womöglich im Unendlichen einer idealen Welt trifft, kann nicht die Rede sein.

Gleichwohl ist dies eine ausgesprochen geniale Choreografie, überaus einfallsreich und völlig eigengeprägt. Man kennt diese Rückenansichten, sozusagen Pas renversées, inzwischen als Goeckes Markenzeichen aus dem Effeff – und ist doch immer wieder überrascht, was ihm ständig Neues einfällt, so dass nie der Eindruck einer klischeehaften Wiederholung entsteht. Das zittert und bebt und durchwellt den ganzen Körper, der ständig unter Hochspannung zu stehen scheint, und man fragt sich, wie Goecke diese total ungewohnten Bewegungen den Tänzern beibringt – und ebenso fragt man sich, wie es ihnen gelingt, sie so perfekt auszuführen. So dass man den Eindruck gewinnt, sie absolvierten jeden Tag das Spezialtraining einer Meisterklasse bei den Zitteraalen. Frappierend! Der Mann praktiziert eine total neue Tanzsprache (zum Teil sogar mit verblüffend humoristischen Akzenten), die man eines Tages wohl als „Le Système Goeckien“ klassifizieren wird.

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