Wo die Musik und der Tanz eloquent genug sind, um ohne Worte auszukommen

Vier Uraufführungen von Thiago Bordin, Terence Kohler, Philip Taylor und Davide Bombana

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Karlsruhe, 09/04/2005

Die zweite Birgit-Keil-Spielzeit und Karlsruhe im Aufwind – sowohl was die mit ansteckendem Elan und jugendfrischem Optimismus tanzende Kompanie betrifft als auch das enthusiasmierte Publikum. Wenn das so weitergeht, wird Karlsruhe seinen Namen als Fächerstadt (den sowieso niemand außerhalb der Badenkapitale versteht) bald gegen den der Ballettstadt austauschen können.

Das zweite von drei neuen Spielzeitprogrammen, diesmal im Kleinen Haus (mit Tonbandeinspielungen), die dritte Vorstellung, kein Abo, sondern im freien Verkauf – und an der Kasse prangt überall das „Ausverkauft“-Zeichen. Und das bei vier Uraufführungen unter dem Sammeltitel „Kreationen“. Darunter zwei von Junioren, gerade mal Anfang zwanzig, Thiago Bordin und Terence Kohler, plus zwei Senioren, Philip Taylor und Davide Bombana – wobei die beiden Youngsters den beiden Etablierten eindeutig die Show gestohlen haben.

Besonders der fantastisch einfallsreiche Bordin, aus der Mannheimer Akademie hervorgegangen, inzwischen Principal bei Neumeier in Hamburg – mit seinen „Voices of Silence“, einer Schumann-Scharade (wie vor dreißig Jahren sein Hamburger Chef mit „Meyerbeer-Schumann“) zum Liederzyklus der „Dichterliebe“. Zweifellos überambitioniert, was die biografischen Zuweisungen angeht (nur der Knabe ist auf Anhieb identifizierbar, die anderen allenfalls, weil man sie als Tänzer kennt – natürlich Flavio Salamanka und Anais Chalendard). Doch was für ein Formgefühl, was für eine Bildkraft, was für eine musikalische Sensibilität, was für ein Variationsreichtum in den flüssigen Pas de deux („Ich grolle nicht, und wenn das Herz auch bricht“).

Die größte choreografische Begabung nach Schläpfer! Auch Kohler, Tänzer im Karlsruher Ensemble, muss sich vor Überfrachtung seiner Personen hüten (Krankheit, Ohnmacht, Schizophrenie). Aber ein toller Einfall, in seinem „In the near distance“ (zu Ligetis 1. Streichquartett) einen Tänzer mit seinem sich verselbständigenden filmischen Alter Ego zu konfrontieren und ihn so auf einen Horror-Trip zu schicken – eine ausgesprochene Hitchcock-Rolle für den sich total verausgabenden Salamanka im irritierenden Grenzverkehr zwischen Realität und Virtualität.

Bei den beiden Arrivierten sind die Bühnenbilder gleichberechtigter Partner der Choreografie, die Lamellenwand von Claudia Doderer in Taylors „Strange Waters“ und die geheimnisvoll fluoreszierenden Jalousien von Dorin Gal in Bombanas „Tenebrae“, die freilich über die todessüchtigen Madrigale Gesualdos allzu nichtssagend und beliebig hinwegtanzen und auch durch so ausdrucksstarke Tänzer wie Chalendard, Stephan Renelt und Diego de Paula nicht an atmosphärischer Verdichtung gewinnen. Im Gegensatz dazu beeindruckt Taylor durch die Rasanz seiner Schlitter-Motionen und aalglatten Boden-Gleitfiguren, die von den Karlsruher Tänzern, hier angeführt von Felipe Rocha und Antonia Vitti, mit echsenhafter Geschmeidigkeit ausgeführt werden.

Und schon ist in Karlsruhe die nächste Ballettpremiere mit Choreografien von Petipa, Balanchine, Forsythe und – den lieb ich, der sich dieser Herausforderung stellt – Kohler für den 21. Mai angekündigt! Übrigens: zwei Tage nach dem enervierenden Stuttgarter Tanzgequassel ein Ballettabend, der ohne ein einziges gesprochenes Wort auskommt. Welch eine Wohltat!

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