Manipulierte Körper - Manipulierbares Publikum

Was ist los mit diesem 17. Festival Tanz im August?

Berlin, 30/08/2005

25 Produktionen davon 5 Uraufführungen und 7 Deutschlandpremieren, an erstmals 13 Spielstätten, ergänzt durch Filme, Lectures, Buchpräsentationen, Installationen und Diskussionen - alle ausverkauft (!) trotz nicht immer nachvollziehbarer Kartenpreise und leider fast immer „variabler“ Anfangszeiten. Das Tanzfest ermöglichte in den vergangenen zwei Wochen durch seine inhaltliche Offenheit künstlerische Begegnungen der 265 Künstler aus ganz Europa, Nordamerika und Berlin mit einem begeisterungsfähigen Publikum, das neueste Tanz- und Performanceproduktionen erleben konnte. Tanz im August versteht sich als Seismograf und Entdeckungsraum für den zeitgenössischen Tanz in seiner ästhetischen und inhaltlichen Bandbreite, es ortet Schnittstellen internationaler Entwicklungen, setzt auf große Namen und gleichzeitig auf Risiken. Beides kein Garant für Erfolg.

Bei Ohad Naharins „Mamootot“ (2001) saß ich im Rechteck der Zuschauer um die blutleeren neun toten Seelen der Batsheva Dance Company/Tel Aviv. Mit Minitaschenlampen suchte ich gleich den zunehmend genervten Besuchern vergeblich im Schwarz des HAU 2 beim anonym kreierten aber fünffach koproduzierten Desaster „Ohne Titel“ nach Lebenszeichen, allein die inszenatorische Leere trieb den Unmut der entmündigten Besucher in akustisch-rhythmische Überlebensreaktionen. Fünfundzwanzig Minuten wartete das Publikum in der ausverkauften Staatsoper geduldig auf den hochkarätigen Treff von Klassik und Moderne um von Ballettstar Vladimir Malakhov seine ersatzlose krankheitsbedingte Absage zu erfahren, die den ganzen Abend in eine zusätzliche programmatische Schieflage brachte, die leider Jérome Bels 2004 in Paris uraufgeführter Soloperformance für und mit „Véronique Doisneau“ (Deutschlandpremiere), die sich als klassische Gruppentänzerin in Wort und Bewegung professionell outet, in missverstehendes Amüsement katapultierte und „Giszelle“ (2001) von Xavier Le Roy mit Eszter Salamon zur Geduldsnummer verkommen ließ, statt ihre musiklose bewusst abstoßende Bewegungslitanei banaler Vulgarität aus Sex und Crime, gerahmt von Ouvertüre und wenigen Schlusstakten aus „Giselle“, in ihrem verstörenden Realitätsbezug bewusst zu machen.
Ich bastelte keine Pappmasché-Saurier aus Vorlagen an Tischen auf dem Bühnenrund im Haus der Berliner Festspiele, während elektronische Zerrlaute die debilen Verrenkungen von drei Akteuren in William Forsythes Privattheater über den tödlichen Zellwucher im Körper seiner Frau !You Made Me A Monster! (Deutschlandpremiere, Eröffnungsbeitrag der Biennale Venedig 2005) fünfzig Minuten jenseits einer vermeintlich relevanten Xenophobia (Fremdenhass) ins inhaltliche Nichts trieben. Gegen diese Flops behaupteten sich die künstlerischen Highlights.

Der furiose Festivalauftakt gelang mit der gerade zur Biennale in Venedig uraufgeführten Produktion „bODY_rEMIX/gOLDBERG_vARIATIONS“, die die fast nackten schönen Körper der sechs Tänzerinnen und vier Tänzer der kanadischen Compagnie Marie Chouinard aus Montréal auf Krücken, Prothesen, an Seilen, barfuß teils mit Spitzenschuhen an Füßen und Händen in affektreiche Begegnungen treibt. Getanzte Träume vom Fliegen, die gelingen oder Illusion bleiben. Hier geht es nicht um die Ausstellung von Krankheit und Behinderungen, sondern um eine höchst anregende Bewegungsrecherche, die den Menschen in seinen immerwährenden und oft schmerzvollen Gehversuchen thematisiert und feiert. Sisyphus 2005. Chouinards Choreografie zeigt durch diese Verfremdung Bruchstücke einer verletzbaren und selbst verletzenden Existenz, zeigt sowohl die Zerstücklung als auch die menschliche Kraft zu neuer Ganzheitlichkeit, die aus der Stille erwächst, in der der Atem hörbar fließt. Die gesplittete Szenenfolge präsentiert in aufregend sinnlichen narrativen Soli, Duetten und Gruppensequenzen den Menschen bis zu einem deutlich vernehmbaren Vivre! Ensemble! Chouinards Tänzerdarsteller prägen sich ein durch eine affektreduzierte Mimik zwischen orgastischem Lachen und offenen Mündern des Entsetzens, die an Edward Munch gemahnen. Rudimentär inspiriert von Glenn Goulds legendärer Einspielung der Bachvariationen, die wie ein fernes Ideal durch den raffinierten Klangrhythmus von Louis Dufort schimmern. Im Schlussbild schwebt eine Frau langsam immer höher zum Licht, während die Gehhilfen an Seilen in der Abwärtsbewegung verharren.

„No Wonder“ von und mit der argentinischen Wahlberlinerin Constanza Macras begeisterte als eine der fünf Uraufführungen des Festivals. Von 'Station 18' im 'dorky Dschungel' von Bühnenbildnerin Marion Hofstetter gestrandet, hetzt Constanza Macras sich, Lisi Estaras, Nicolas Vladyslav und Musikerin Kristina Lösche-Löwensen in immer neue (Kostüm)-Exzesse auf der Suche nach dem Ich. Macras' Slapstick-Trash aus Text, Musik, Bewegung, Theater und Video fokussiert in überzeichneten und übergangslos ineinander fließenden Szenen den Zivilisationsmüll in Gestalt der Ersatzexistenzen von Lara Croft, Evita, Leni Riefenstahl, Batman bis M-TV. Macras und ihre Protagonisten sind Kraftbolzen, die das Publikum mit ungeformten Anarchokörper-Bildern korrumpieren, vom Nackttrio, Pas de deux mit Tiger, Fußball à la Maradona, lehmige Geschlechtsumwandlung bis zum Frauencatch, das die regennassen Körper erzittern lässt. Das Lachen über die Unverfrorenheit der Akteure mischt sich mit dem Schauder vor den Realitäten. Spell on me, krächzt Constanza verzweifelt, während drei Arbeiter beginnen die Bühne zu wischen. „No Wonder“ ein grotesker Aufschrei gegen die globalen Verblödungen unserer Gegenwart, eine hingerotzt bissige Abrechnung mit der Spaßgesellschaft, deren täglicher Müll die Identitäten zersetzt.

Prägnantes Tanztheater am Nerv der Zeit, das sich scharf vom Happening abgrenzt, offerierte Maguy Marin mit ihrer Compagnie vom französischen Centre Chorégraphique National in Rillieux-la-Pape. Marins 2004 uraufgeführte hochambitionierten Produktion „Umwelt“ (Deutschlandpremiere) geriet zum kompromisslosen Festivalabschluss in der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz. Neun Menschen für eine pausenlose Stunde in einem Wind- Lichtkanal mit ohrenbetäubendem Düsensturm in sich wiederholenden Bewegungsfetzen von filmischer Genauigkeit. Präzise in der Zeichenhaftigkeit von Kostüm, Requisiten und Bewegung, befragt „Umwelt“ den König der Schöpfung in der fragilen Mechanik seiner alltäglichen Isolation in Beruf und Privatsphäre. Schwer verdaulich für einen Teil des Publikums.

Tanzen in der Vielfalt seiner Erscheinungsformen ist eine anthropologische Disziplin, formuliert das gerade bei Theater der Zeit publizierte und im Festival von Herausgeber Johannes Odenthal vorgestellte Arbeitsbuch „tanz.de“, das sich kenntnisreich der aktuellen Pluralität deutscher Tanz- und Bewegungskonzepte in historischen und internationalen Kontexten widmet. Wenn dem so ist, braucht das größte deutsche Festival für internationalen zeitgenössischen Tanz mehr denn je den interdisziplinären Dialog von Kunst, Politik und Öffentlichkeit. Heute Festivalabschluss: „Dido & Aeneas“ (Oper von Henry Purcell), Regie und Choreografie Sasha Waltz, Staatsoper Unter den Linden.

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