Ein Muss für alle Balanchine-Fans

„Der verlorene Sohn“, „Die vier Temperamente“, „Stravinsky Violin Concerto“ etc. auf zwei DVDs

oe
Stuttgart, 17/05/2005

Schon in den sechziger (oder waren es die frühen siebziger?) Jahren produzierte George Balanchine mit Regisseuren wie Klaus Lindemann und Hugo Niebeling in Berlin eine Auswahl seiner Ballette fürs Fernsehen. Da wüsste man gern, was aus ihnen geworden ist, denn, wenn ich mich recht erinnere, waren damals noch die Stars der frühen Generation des New York City Ballet dabei. Eine zweite Staffel entstand dann Ende der siebziger Jahre für die „Dance in America“-Serie von Jack Venza. Da handelte es sich um vier Programme, die jetzt auf zwei DVDs erschienen sind: die erste mit „Tzigane“ (Ravel), Andante aus dem „Divertimento No. 15“ (Mozart) und „The Four Temperaments“ (Hindemith) sowie mit einer Auswahl aus „Jewels“ (Fauré und Tschaikowsky) und dem „Stravinsky Violin Concerto“ (auf Warner Music Vision 7559 79838-2, 108 Minuten) – die zweite mit „Chaconne“ (Gluck) und „Prodigal Son“ (Prokofjew) sowie „Ballo della Regina“ (Verdi), „The Steadfast Tin Soldier“, „Elégie“ (Tschaikowsky) und „Tschaikowsky Pas de deux“ (7559 79839-2, 106 Minuten).

Es sind Produktionen, die das Herz jedes Balanchine-Fans höherschlagen lassen. Sie bestechen durch ihre Klarheit und Reinheit und kommen ohne alle kamera-und schnitttechnischen Fisimatenten aus. Sie sind ganz auf die Tänzer konzentriert, und es gibt – wie sonst so oft – keine ab- und angeschnitten Hände und Füße. Und noch eine Besonderheit: sie bieten zwei Texthefte mit informativen Kommentaren der Produzentin Merrill Brockway über die Arbeit an der spezifischen Fernsehadaption der einzelnen Ballette und über die Tänzer. Und die sind einfach Klasse – sowohl die Superstars Suzanne Farrell und Peter Martins als auch ihre Kolleginnen und Kollegen vom New York City Ballet wie Merrill Ashley, Patricia McBride, Karin von Aroldingen, Colleen Neary, Mikhail Baryshnikov, Robert Weiss, Bart Cook, Daniel Duell, Adam Lüders und wie sie alle heißen.

Es ist nicht alles choreografisches Gold, was auf diesen beiden Discs versammelt ist – und meine Begeisterung selbst für ein international so renommiertes Werk wie den „Verlorenen Sohn“ (hier immerhin mit Baryshnikov und von Aroldingen) hält sich in engen Grenzen (und beruht allein auf der Zwischenschaltung meines historischen Bewusstseins für den engen Zusammenhang mit der expressionistisch-experimentellen Frühphase des jungen Sowjetballetts). Manche der Piecen wirken – nicht zuletzt durch die doch sehr schaufensterhaften Ausstattungen von Peter Harvey und Karinska – wie Werbegrafiken aus den siebziger Jahren. Sie bestechen aber auch als tänzerische Konsumartikel durch ihre fabelhafte Musikalität und Balanchines staunenswerten Erfindungsreichtum (selbst in den rein klassischen Choreografien der Petipa-Nachfolge). Und sie bieten immerhin zwei absolute Meisterwerke wie die „Vier Temperamente“ und das „Strawinsky-Violinkonzert“, die jedenfalls in der Fünf-DVD-Auswahl meines Gepäcks für die einsame Insel nicht fehlen dürften.

Außerdem demonstrieren sie auf einzigartige Weise die Weiterentwicklung des klassisch-akademischen russischen Schulstils zu einem unverkennbar amerikanischen Idiom und dessen perfekte Verkörperung durch einen ebenso amerikanisch geprägten tänzerischen Persönlichkeitstyp. Gerade deswegen wünschte ich mir, es gäbe aus früheren Fernsehproduktionen eine ähnliche Auswahl mit Tänzern der ersten NYCB-Generation wie Maria Tallchief, Tanaquil LeClerq, Melissa Hayden, Allegra Kent und Violette Verdy, mit André Eglevsky, Jerome Robbins, Todd Bolender, Nicholas Magallanes, Jacques d'Amboise und Edward Villella. Immerhin: als Balanchine-Referenz ist dieses DVD-Zwillingspaar „Choreography by Balanchine“ unverzichtbar!

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