„Sommernachtstraum“ von George Balanchine. Tanz: Ensemble

„Sommernachtstraum“ von George Balanchine. Tanz: Ensemble

Schillernde Divertissements nach Shakespeare

George Balanchines „Sommernachtstraum“ an der Pariser Oper

Balanchines „Sommernachtstraum“ ist ein üppiges tänzerisches Spektakel. Wenngleich es von den Tänzern der Pariser Oper auf hohem Niveau getanzt wurde, gibt es darstellerisch sehr wenig für die Interpreten her.

Paris, 12/07/2022

George Balanchines „Sommernachtstraum“ aus dem Jahr 1962, der vor fünf Jahren erstmals an der Pariser Oper aufgeführt wurde (siehe tanznetz vom 24.03.2017), könnte man als Handlungsballett wider Willen bezeichnen: so reduzierte der Choreograph in dem Werk, dessen Struktur und Handlungsdarstellung im späten 19. Jahrhundert verwurzelt sind, die pantomimischen Passagen auf ein Minimum, so dass das Ballett hauptsächlich aus einer Serie von Divertissements mit Shakespeare-Anklängen besteht. Balanchine, der es für unmöglich hielt, Shakespeare zu tanzen, kam es vor allem auf den Tanz und die Musik an: seine Hauptinspiration lag in der Partitur, die Felix Mendelssohn für eine Aufführung des Theaterstückes vor dem König von Preußen im Jahr 1843 komponierte. Diese Musik verknüpft die Balletthandlung im ersten Akt enger mit den Themen aus Shakespeares Stück, wohingegen sich die Verbindung im zweiten Akt, der von anderen Stücken aus Mendelssohns Werk begleitet wird, beinahe völlig auflöst. Die von Balanchine zusammengestellte Partitur wurde vom Orchester der Pariser Oper unter dem Dirigierstab von Andrea Quinn schwungvoll und präzise interpretiert.

Für den langen ersten Akt, der im magischen Wald aus Shakespeares Akten 2 bis 4 spielt, schuf der Modeschöpfer Christian Lacroix mehrere farbenfrohe, glitzernde Bühnenbilder und zahlreiche schillernde Kostüme, deren Ästhetik teilweise an Disney-Filme erinnerte. Anders als in Shakespeares „Sommernachtstraum“, der ursprünglich nur von männlichen Schauspielern interpretiert wurde, stehen in Balanchines Ballett wie in den meisten seiner Werke die weiblichen Figuren im Mittelpunkt. Für die Elfenkönigin Titania, deren Streit mit ihrem Gatten Oberon um einen indischen Jungen einen Großteil der Handlung auslöst, schuf er lange Tanzpassagen in ihrer Laube: sie tanzt sowohl Soli unter ihren Gefährtinnen als auch Pas de deux mit einem namenlosen Kavalier und mit dem eselsköpfigen Bottom, den ihr Oberon zur Strafe für ihren Ungehorsam als Geliebten aufhalst. Die zartgliedrige, souveräne Ludmila Pagliero ließ sich weder durch den Eselsstreich noch durch die technischen Schwierigkeiten ihrer Rolle aus der Fassung bringen; obgleich sie am Ende Oberon den begehrten indischen Jungen aushändigt, lässt sie keinen Zweifel daran, wer im Feenreich das Sagen hat. Nicht einmal zum Anlass der Versöhnung mit ihrem Gatten lässt sie sich herab, mit ihm einen Pas de deux zu tanzen – stattdessen muss sich dieser damit begnügen, unter Glühwürmchen und Schmetterlingen eine Serie kurzer Soli zu absolvieren. Der hochgewachsene Jérémy-Loup Quer als Oberon hatte zwar noch stellenweise etwas Mühe mit der blitzschnellen Petite Batterie, die Balanchine für einen deutlich kleineren Tänzer schuf, doch bestach er durch eine strahlende Bühnenpräsenz und Humor in dieser vor allem darstellerisch recht unergiebigen Rolle.

Neben diesen übernatürlichen Protagonisten trugen auch die menschlichen Liebespaare – Helena, Hermia, Demetrius und Lysander (Laura Hecquet, Aubane Philibert, Audric Bezard und Pablo Legasa) – deren gegenseitige Zu- und Abneigungen sich unter Einfluss des Liebessaftes einer magischen Blume wandelten, ihre Streitigkeiten im Wald aus. Trotz verzweifelter Soli der beiden verschmähten Frauen bleiben die Persönlichkeiten der Liebenden in Balanchines Fassung konturarm. Ähnliches gilt für den athenischen Herrscher Theseus (Yannick Bittencourt), der zweimal kurz im Wald erscheint und zum Schluss des Aktes spontan der ebenso aus dem Nichts erschienenen Amazonenkönigin Hippolyta (Célia Drouy) einen Heiratsantrag macht. So ist der Übergang zum Hochzeitstanz im Stil des späten 19. Jahrhunderts in Theseus’ Palast gefunden, in dem die drei Brautpaare als austauschbare Solisten auftreten. Im Zentrum des zweiten Aktes steht – anstelle der ungewollt komischen Vorstellung von „Pyramus und Thisbe“ bei Shakespeare – ein Divertissement mit einem langen, gemessenen Pas de deux eines namenlosen Paares, der teilweise an höfische Tänze erinnert. Heloïse Bourdon und Germain Louvet meisterten dieses Duo, das sowohl die Ballerina als auch ihren sich selbst zurücknehmenden Partner vor zahlreiche Herausforderungen stellt, mit beachtlicher Grazie.

Balanchines „Sommernachtstraum“ ist ein üppiges tänzerisches Spektakel, das sich auf einem Mittelweg zwischen Petipas Handlungsballetten und Balanchines eigenen handlungslosen Werken bewegt. Wenngleich es von den Tänzern der Pariser Oper auf hohem Niveau getanzt wurde, gibt es darstellerisch sehr wenig für die Interpreten her – abgesehen von der Rolle des Puck, den Andrea Sarri charmant und leichtfüßig tanzte. Es wäre zu erwägen, ob man neben diesem Werk nicht John Neumeiers geistvolle Fassung wieder in Paris aufführen könnte, die zwar weniger prächtig ist, aber dafür andere Perspektiven auf das Stück eröffnet und zeigt, wie sich das literarische Handlungsballett und die Interpretation von Shakespeares Komödie seit den frühen 1960ern gewandelt hat.


Besuchte Vorstellung: 09.07.2022
www.operadeparis.fr

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