Lin Hwai-min: „Smoke“

oe
Zürich, 04/09/2004

Ein fulminanter Auftakt zur Spielzeit 2004/5 beim Zürcher Ballett mit Lin Hwai-mins „Smoke“ (siehe kj vom 17.12.2002). Es ist die schon zur Tradition gewordene Ballettpremiere – noch vor dem großen Opernstart. Das Orchester ist noch in den Ferien, doch getanzt wird zu Live-Musik. Also ist Kammermusikalisches angesagt – wie bei so vielen Spoerli-Balletten. Konzentrierte der Chef sich zuletzt auf die Cello-Solosuiten von Bach, so gehen auch diesmal wieder vom Cello die entscheidenden Impulse aus: Sonaten, ein Trio und ein Quartett von Alfred Schnittke, mit Claudius Herrmann, dem Solocellisten des Zürcher Opernorchesters im Mittelpunkt seiner Kollegen, der ja nachgerade zum Tanz-Cellisten des Zürcher Balletts avanciert ist. Schnittkes Musik taucht das Ballett in eine nervöse, febrile Atmosphäre, die ihren Halt findet in mehrfach wiederkehrenden Walzer-Episoden.

Hwai-min will seinen Titel „Smoke“ als „Geruch des Rauchs jenes Feuers“ verstanden wissen, „mit der die Hindus am Ufer des Ganges die Leichen ihrer Toten verbrennen“. Er hat bei ihm aber, zusammen mit der Musik Schnittkes, eine Assoziationskette ausgelöst, die bis zu Prousts „Duft einer verlorenen Zeit“ reicht – und darüber hinaus wohl auch bis zu James Joyce und seinem endlos fließenden Bewusstseinsstrom.

Es geht also um Erinnern, Vergegenwärtigen und wohl auch um Zukunftsvisionen. Das geschieht in neun nahtlos ineinander übergehenden Episoden, Gruppen, kleineren Ensembles, Pas de deux, wenigen Soli, die sich siebzig pausenlose Minuten aneinanderreihen. Skizzen der verschiedensten Art und unterschiedlichen Charakters – nichts dingfest Narratives ist darunter – Freiräume für die Fantasie des Publikums – aus dunkelster Nacht hervorgeleuchtet (atmosphärisch suggestiv von Chang Tsan-Tao) – unter einem riesigen Baum (Austin Wang), der bei mir wiederum die Assoziation einer Weltesche vom Nibelungenstamm ausgelöst hat.

Spezifisch Fernöstliches, Taiwanesisch-Chinesisches habe ich nicht entdecken können – aber vielleicht reichen meine Kenntnisse asiatischer kultureller Traditionen einfach nicht aus. Doch auch choreografisch habe ich die anderen Stücke von Hwai-min viel stärker von spezifisch taiwanesisch-chinesischen Techniken geprägt in Erinnerung. Dies ist ein doch sehr von zeitgenössisch-abendländischen (gerade auch amerikanischen) Techniken inspiriertes Stück, souverän gehandhabt und hautnah der Musik angepasst, von einer lautlosen, geradezu zärtlichen Geschmeidigkeit und Biegsamkeit. Ungemein virtuos, auch im Gebrauch der Hände und Arme, mit erstaunlich vielen Sprüngen, aber das gleichsam sostenuto, ohne ostentative artistische Bravour. Sehr beeindruckend, ja bewegend, so dass ich das Ganze am liebsten gleich noch einmal gesehen hätte.

Einmal ganz abgesehen davon, Heinz Spoerli zu beglückwünschen, dass es ihm gelungen ist, diesen heute berühmtesten und wichtigsten Choreografen des Fernen Ostens bewogen zu haben, ein erstes Mal eine seiner Arbeiten einer klassisch basierten Opernballettkompanie zu überlassen, beweist die Produktion einmal mehr, dass eine gut geschulte klassische Truppe in der Lage ist, sich die unterschiedlichsten choreografischen Handschriften anzuverwandeln. Wobei daran zu erinnern ist, dass die Zürcher sich ja auch bereits einen Cunningham erarbeitet haben (welche deutsche Kompanie könnte das schon von sich behaupten?) Die Zürcher tanzen das mit einer selbstverständlichen Matter-of-Factness-Souveränität – einer von ihnen, der Armenier Davit Karapetyan mit einer geradezu staunenerregenden Nonchalance.

Eine andere Überlegung! Wie wäre es denn, wenn man sich an Alexander Pereiras Opernhaus einen Zürcher Ballettherbst einfallen ließe? Ein paar Vorstellungen zu Beginn der Saison, gebündelt, die Klassiker vielleicht mit dem einen oder anderen auswärtigen Stargast, dazu ein klassisches und womöglich ein modernes Gastensemble, am Schluss dann eine Gala! Was Hamburg sein Nijinsky ist (hat der je in Hamburg getanzt?) sollte den Zürchern allemal ihr Wilhelm Tell wert sein!

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