Innenwelt und Außenwelt, realistisch geträumt

Ballettwochen-Auftakt mit „Porträt Mats Ek“

München, 10/03/2004

Wo gibt es das sonst, dass eine Kompanie neben sieben Petipa-Klassikern, einer Fülle neoklassischer Handlungsballette von Cranko und Neumeier, neben Balanchine und Robbins so grundverschiedene moderne Abende anbietet wie beim Bayerischen Staatsballett? Wo die Tänzer zwischen Childs, Teshigawara, Forsythe und Godani leidenschaftlich auf die Herausforderungen der unterschiedlichsten Stile eingehen und mit ihrer Hingabe an die jeweiligen Aufgaben eine lebendige Wahrhaftigkeit vor Augen stellen. Wo die Personalunion der Ausführenden das weitgespannte Repertoire mit der großen Klammer aufwertet, die Glaubwürdigkeit heißt. Nach van Manen, Kylián, Neumeier, alle Großmeister des zeitgenössischen Tanzes, war nun dem rustikalsten Klassik-Demolierer, dem Schweden Mats Ek, ein neues Porträt gewidmet. Man darf wohl verraten, dass Ek nach der Premiere die Offenheit und Hingabe aller Mitarbeiter bis hin zum Kostümwesen und der Bühnentechnik dankend hervorhob und in dieser Gesamtheit als außergewöhnlich für ein so großes Haus bezeichnete.

Das 2001 erstmals präsentierte „A sort of...“ und das im Jahr 2000 für die Pariser Oper geschaffene „Apartment“ bilden eine komplementäre Polarität. In „A Sort of...“ projiziert ein Mann im Aufwachen genüsslich seine Phantasien auf eine Frau. Dabei gelingt es Norbert Graf und Valentina Divina vorzüglich, Spannung aufzubauen. Doch schon bei einer ersten infernalischen Passage von Henryk M. Góreckis Musik („Kleines Requiem für eine Polka“ und „Konzert für Cembalo und Streichorchester“) tummelt sich hinter einer Türöffnung das wilde Leben. Ein Koffer, ein Ticket, und mit seiner Frau im Koffer zieht der Mann hinaus. Das Poetisch-Leise der Anfangsszene verliert sich. Auf einer Mauer versinken anstelle von exekutierten Luftballons Köpfe. Ein Mann entflieht und wird vom martialischen Gekreische der Frauen fertiggemacht. Erst nach einer Weile flaut das Höllentempo ab, und ein Mädchen, derb-natürlich in Straßenschuhen, begegnet einem Jungen (Irina Dimova und Lukas Slavický schön erzählend). In solchen Begegnungen sind Eks Menschen bezaubernd ehrlich und direkt. Schließlich nimmt sie ihn in den Arm, die Spannung löst sich, unorthodox-virtuos tanzen sie weg. Eine Schwangere taucht auf, Musik und Atmosphäre schlagen wieder ins Brutale um, ein Killer (eiskalt Alen Bottaini) tötet alles, was Leben zeugt, Kriegsgreuel werden evoziert. Dreiergruppen mit Koffern kommen von allen Seiten, die Mauer „fällt“, gibt den Blick frei aufs Staatsorchester unter Myron Romanul im Bühnenhintergrund, dessen peitschende Musik alle niederzwingt, bis der Mann vorn aus dem Alptraum wieder in Schlaf fällt. Der Wechsel der Kostüme weist auf einen Tausch der Geschlechterrollen mit der Frau, die ihn nun verlässt.

Nach dem Panoptikum dieser Reise untersucht Ek in „Apartment“, wie man sich im Mikrokosmos der eigenen vier Wände hinter seinen Obsessionen versteckt. In der ersten Szene ist es das Badezimmer, von dem eine Frau nicht lassen kann. Sherelle Charge erzielt mit ihrem Mut zur Hässlichkeit eine hohe Intensität. In ihrem weiten Hemd und Rock wirkt sie wie eine Barlach-Figur mit weit ausschreitenden Bewegungen und in die Drehung gedehnten Balancen, aus denen manchmal ein langes Bein hervorsticht. Doch welche Richtung sie auch einschlägt, immer bleibt das Bidet für sie im Zentrum. Vier Männer können sie in einen Tanz verwickeln, aber nicht herausholen. Hinter dem sich öffnenden Vorhang wird ein Mann sichtbar, der dem Fernsehen verfallen ist. Fast schon mit seinem merkwürdigen Sessel verwachsen versucht er sich aus diesem indirekten Leben, mit dessen Programm er nicht einmal einverstanden ist, zu lösen. Ek nimmt diese Abhängigkeit ernst, erfindet die absurdesten Bewegungen, mit denen der Mann von dem Gerät wegstrebt, doch als er schließlich abschaltet, schaltet er auch sein Leben ab. Norbert Graf verkörpert dies virtuos, mit großartigem Verständnis und einem ausgeprägt individuellen Charme. Nach einer Straßenszene öffnen sich weitere Vorhänge zu neuen Lebenszellen. In einer tanzen Valentina Divina und Roman Lazik einen Beziehungs-Pas de deux, dem man gespannt folgt, bis eine überraschende Wendung die Erlebnisbereitschaft, die beide durch ihre eindringliche Darstellung verstärkten, gefrieren lässt. Eine verspielte Dreiergruppe mit Reminiszenzen an kindliche Spiele und weitere Episoden folgen. Unter ihnen ist das Staubsauger-Quintett, das die leeren Schrittfolgen irischer Shows veräppelt, hier aber mit dem rebellischen Unmut putzender Frauen unterlegt ist, hitverdächtig.

Doch bei Ek liegt in jeder Faszination schon die Beklemmung. Desto schöner, dass Cheryl Wimperis und Alexandre Vacheron in ihrer Vision einer Begegnung von Liebenden eine solche Gelöstheit erreichen. Mit ihrem „Tür-Pas-de-deux“ setzt auch der musikalisch schönste Teil des Abends ein. Danach sperren weiß-rote Bänder die Bühne und die schwedische Rockband „Fläskkvartetten“ (Fleshquartet) steigert ihre nun schneidende Musik zu einem stampfenden Crescendo, in dem die Violine wie eine E-Gitarre klingt. Im Finale arbeitet Ek mit einem Bewegungs-Unisono wechselnder Gruppen, bis alle Tänzer in drei Reihen nochmals sein überraschend umfassendes Tanzidiom durchbuchstabieren und der tolle Sound sich hinter den sinkenden Vorhängen verliert. Zum Auftakt der Ballettwoche ein überzeugender Erfolg für das Ensemble unter Ivan Liska und eine weitere Bereicherung des Repertoires.

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